Die Neueröffnung des Wiener Volkstheaters wäre für Jänner geplant gewesen. So richtig durchstarten wird man – trotz erster Premieren – erst im September. Kay Voges: "Ich weiß nicht, wie richtiges Volkstheater heute ausschauen kann. Theater ist eine permanente Suche."

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Mittwochabend ging es auch am Wiener Volkstheater wieder los: Nach eineinhalb Jahren Schließzeit – erst wegen der Generalsanierung des Hauses, dann wegen Corona – feierte Kay Voges mit Thomas Bernhards Theatermacher seinen Einstand als Volkstheater-Intendant. Eine mutige Wahl, schließlich eröffnete auch Claus Peymann vor 35 Jahren seine Intendanz am Burgtheater mit Bernhards Stück. Ob auch Voges ein Stachel im Fleisch der Wiener sein will, das besprachen wir mit dem Düsseldorfer im Rahmen unserer "StandArt"-Videoreihe.

STANDARD: Peymann setzte mit seiner ersten Premiere ein Zeichen gegen die verschnarchte Wiener Theaterlandschaft. Auch Ihre Intention?

Voges: Nein, es ging uns darum, unsere starken Schauspielerinnen und Schauspieler zu präsentieren. Das Stück bietet eine Reihe an fantastischen Rollen. Und wir wollten einen ersten Vorgeschmack liefern der ästhetischen Spannbreite, die das Volkstheater bieten wird: von klassischem Schauspiel bis hin zu experimentelleren Spielweisen.

STANDARD: Der Abend dekliniert ganz unterschiedliche Inszenierungsstile durch. Für welche Art von Theater stehen Sie?

Voges: Ich möchte ein gegenwärtiges Theater machen. Also einerseits Themen präsentieren, die der Gegenwart immanent sind, andererseits eine Reihe heutiger Stile zeigen. Sie haben gerade Claus Peymann angeführt, sein Theatermacher hatte vor 35 Jahre Premiere. Was damals progressiv und neu war, ist es heute nicht mehr. Sehgewohnheiten verändern sich.

STANDARD: Es ist nicht selbstverständlich, dass am Volkstheater progressives Theater gezeigt wird.

Voges: Ich weiß nicht, wie richtiges Volkstheater heute ausschauen kann. Theater ist eine permanente Suche, der Gegenwart ein Sinnbild zu verleihen. Das Volkstheater will ein Theater sein, wo Menschen eingeladen sind, gemeinsam auf die Suche nach Auseinandersetzungen mit der Gegenwart zu gehen.

STANDARD: Sie bleiben sehr allgemein. Welches konkrete Profil wollen Sie dem Theater in der weiten Wiener Theaterlandschaft geben?

Voges: Theater war an diesem Haus immer eine große, ernste Sache. Als Schnitzler den Reigen am Volkstheater uraufführte, dachte die ganze Stadt, die Welt geht unter. Die Geschichte dieses Hauses ist eine Geschichte von Innovation. Österreich hatte den Brecht-Boykott, aber das Volkstheater hat ihn trotzdem gespielt. Hier wurden Gegenwartsautorinnen und -autoren wie Elfriede Jelinek oder Werner Schwab ans Haus geholt, diesen Weg wollen wir weitergehen. Mit Lydia Haider haben wir eine eigene Hausautorin, weitere Stimmen werden folgen.

STANDARD: Sie haben einen etwas verschobenen Blick auf das Haus: Es ist länger her, dass vom Volkstheater Impulse ausgingen. Das Theater ist das Sorgenkind der Wiener Szene.

Voges: Das Theater war vor allem aufgrund seiner schlechten finanziellen Dotierung ein Sorgenkind. Es ist das zweitgrößte Haus Österreichs, das fünftgrößte im deutschsprachigen Raum. Mit 12,4 Millionen war es immens unterdotiert, das baugleiche Hamburger Schauspielhaus hat das doppelte Budget. Natürlich war da die Programmierung schwer! Dank der drei Millionen, die wir jetzt mehr bekommen, ist mehr Luft zum Atmen da. Wir können Regisseurinnen und Regisseure ans Haus holen, die wir uns früher nicht hätten leisten können. Wobei die drei Millionen durch die fehlende Inflationsanpassung schnell wieder weg sein werden.

STANDARD: Zuletzt belief sich die Auslastung des Volkstheaters auf beschämende 56 Prozent. Muss man da überhaupt noch auf das angestammte Publikum Rücksicht nehmen, oder geht es darum, neue Publikumsschichten anzusprechen?

Voges: Zuletzt hatten wir null Prozent Auslastung. Eineinhalb Jahre war das Volkstheater jetzt geschlossen, in der Zeit der Generalsanierung und der Pandemie haben wir noch einmal Abos verloren. Wir machen jetzt einen Neustart, auch beim Abosystem müssen wir mehr oder weniger bei null starten. Es gilt Überzeugungsarbeit zu leisten, dass es an diesem Haus gutes hingebungsvolles Theater gibt.

STANDARD: Sie werden aber eine Strategie für das Haus haben. Wie schaut diese aus?

Voges: Die Ausrichtung des Hauses ist auf mehrere Säulen verteilt. Im Zentrum steht das 20-köpfige Schauspielensemble. Wir haben einen Fokus auf Musik und einen auf bildende Kunst. Erst vor kurzem hatten wir einen Abend mit Jonathan Meese, mit dem wir den hundertsten Geburtstag von Joseph Beuys gefeiert haben. Dann beschäftigen wir uns mit dem Thema Digitalisierung und damit mit der Veränderung der Gesellschaft und ihrer Erzählstrukturen. Und wir widmen uns der Literatur – älterer genauso wie zeitgenössischer. Von diesen Schwerpunkten kann man ableiten, wen wir ansprechen wollen.

STANDARD: Ein breites Publikum.

Voges: Ja, natürlich wollen wir die Schauspielenthusiasten haben, aber wir wollen auch jene, die normalerweise das Theater meiden, weil sie lieber in Konzerte gehen. An diesem Haus soll die Idee eines breitaufgestellten Volkstheaters wieder realisiert werden.

STANDARD: Ist die Idee eines Volkstheaters nicht ein Anachronismus?

Voges: Das Volkstheater ist ein Haus, das deswegen gebaut wurde, weil Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Geschichten erzählen wollten – im Gegensatz zum höfischen Theater. Dieser oppositionelle Geist gefällt mir, er ist das Vorbild eines heutigen Volkstheaters.

STANDARD: Stichwort Digitalisierung: Während der Pandemie haben Theater viel mit digitalen Inhalten experimentiert. Warum blieb es am Volkstheater so ruhig?

Voges: Digitalisierung bedeutet nicht gleich Streaming. Wir haben Streams während der Pandemie angeboten, aber mit Digitalisierung meine ich die revolutionäre Weiterentwicklung der Menschheit, die uns erfasst hat. Wie funktioniert heute Kommunikation? Wer hat noch eine Plattensammlung zu Hause? Wer besitzt noch ein Auto? Um diesen gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozess geht es.

STANDARD: Die Theater befinden sich in einem Prozess des Wandels. Das Intendantenprinzip wird infrage gestellt, Geschlechterverhältnisse diskutiert, Diversität eingefordert. Wäre eine partizipative Leitung eines Theaters nicht viel zeitgemäßer als die hierarchische Struktur, die auch am Volkstheater noch besteht?

Voges: Wir versuchen, eine sehr zeitgemäße Struktur umzusetzen. Unser Kodex lautet: Lasst uns gemeinsam ins Gelingen verliebt sein, und lasst uns zu jeder Zeit respektvoll miteinander umgehen. Das reicht vom Intendanten bis zur Reinigungskraft. Wir befinden uns alle auf Augenhöhe und sind offen für Gespräche. Wir haben an diesem Haus eine große Gruppe an Menschen mit Superkräften, wir versuchen, miteinander in einer flachen Hierarchie in Kommunikation zu bleiben.

STANDARD: Und wie divers ist das neue Volkstheater?

Voges: Wenn ich auf das Ensemble des Volkstheaters schaue, dann sehe ich 20 Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Herkünften, Pässen, Hintergründen, Talenten und Fähigkeiten. Und damit ist es divers. Natürlich freuen wir uns darauf, unser Ensemble in jeglicher Hinsicht weiterzuentwickeln.

STANDARD: Noch für eine Woche gibt es ein Housewarming, dann werden die Festwochen ins Volkstheater einziehen. Wenn es im September richtig losgeht, was darf man erwarten?

Voges: Wir hoffen sehr, dass die derzeitigen Einschränkungen dann Geschichte sind und wir am 3. September mit einem Fest für die Stadt eröffnen können. Wir werden vieles von dem, was wir in dieser Saison geplant haben, nachholen. Wir werden Hauptmanns Einsame Menschen zeigen, Lolita von Meese wird rauskommen, es werden Dostojewskis Erniedrigte und Beleidigte zu sehen sein und die neuen Texte von Lydia Haider, Zertretung I und II. Und es wird einige Überraschungen geben. Ich hoffe so sehr, dass dieser Herbst nicht der Herbst der vierten Welle wird und wir schon wieder für den Papierkorb geplant haben. (Stephan Hilpold, 30.5.2021)