"Alle Nationen bei den Cricketern waren gut – nur nicht die Kombinationen", hatte Robert Lowe sen., der Präsident und Mitbegründer des Vienna Cricket & Football Club, angesichts seiner Neuerwerbungen, seines englischen Landsmannes Fry und des Pragers Engel, nach dem 3:0 gegen die Vienna am 16. September 1904 gewitzelt. Eine Woche später ließen sich die Cricketer den Münchner Klub von 1896 zur Eröffnung ihres Platzes in der Vorgartenstraße kommen. Und für bessere Kombinationen einen jungen Mann aus England – Charles Stanfield. "Ein höchstklassiger Fußballer", "der schnellste Flügelmann Londons" und "einer der besten englischen Läufer über die Viertelmeile" sei er, überschlugen sich die Wiener Zeitungen.

Die Münchner waren das Eintrittsgeld nicht wert, der Neue hat das Publikum aber mehr als nur amused. "Er ist geschickt, schnell und verfügt über einen scharfen Schuss", war das Neue Wiener Tagblatt so begeistert, dass es ganz vergaß zu berichten, dass er zum 20:1 14 Tore beigesteuert hatte.

Nunhead wirkte in der noch heute existierenden Isthmian League, der ersten Amateurliga Londons. Im Team 1906/07 spielten die Stanfield-Brüder, also auch Charlie (sitzend, Dritter von rechts).
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Am 6. Oktober 1904 schmückte Stanfield bereits das Wiener Team gegen Budapest. Mehr als "ans, zwa, dra" konnte der Neo-Wiener damals – vermeintlich im lokalen Dialekt – auf Deutsch nicht sagen, berichtete Jahrzehnte später sein Klubkollege Max Leuthe, zu dieser Zeit bereits gefragter Redakteur und Karikaturist. Genug, um seine Elf zum Sieg zu schießen. Nicht genug, um alle seine Tore zu zählen. Der verflixte "angol emberek" (Engländer) setzte den verdutzten Ungarn beim hart umkämpften 5:4 nicht weniger als vier Bummerl in den Kasten.

Gewandter Läufer

Ebenfalls noch im Oktober deklassierte Stanfield seine Gegner auch auf der Laufbahn. Der neuen Wiener Rekordzeit von 10 3/5 Sekunden auf die 100 Yards ließ er später noch einen Rekord über 400 Meter folgen. Damit war er endgültig "talk of town". Und Fixstern im Wiener Nachtleben. Im April 1905 stand Charlie abermals im Wiener Team, diesmal als Kapitän. Vom Esprit der ersten Begegnung war jedoch nicht mehr viel übrig – 0:0 in Budapest. Beide Treffen wurden später zu Länderspielen erklärt. Charles Stanfield ist damit bis heute Österreichs Teamspieler mit dem besten Torschnitt. Im Sommer 1905 galt er jedoch als so versoffen, dass er für den Fußball nicht mehr zu gebrauchen war. Abgebrannt bis aufs letzte Hemd, wurde er von Freunden in einen geschenkten Anzug gesteckt und nach Hause geschickt. Hier endet für gewöhnlich die Geschichte des Wieners Stanfield.

Das digitale Zeitungsarchiv der Nationalbibliothek birgt Details über seinen rund neunmonatigen Aufenthalt. Gekommen war Stanfield, weil man ihm vorgeschwärmt hatte, dass einem Fußballer in Wien alle Posten und Ämter offen stünden. Gut möglich, dass ihm diesen Floh schon der anglophile Hugo Meisl ins Ohr gesetzt hatte. Jedenfalls war es der spätere Verbandskapitän, der ihn bei seinen Eltern einquartierte. Geld sollte sich das neue Aushängeschild der Cricketer in einem Spielwaren- und Sportgeschäft verdienen. Vielleicht nicht ganz, was sich Charlie erträumt hatte, aber nicht schlechter als sein vormaliger Job im englischen Kriegsministerium, wo er eine Liste der Gefallenen im Burenkrieg in Evidenz zu halten hatte. "Wenn eine Männ war tot, ich haben gemacht eine Punkt."

Minuspunkte

Allerdings sammelte Stanfield in Wien bald Minuspunkte. Lieber als in der Sport- hielt er sich nämlich in der Spielzeugabteilung auf, wo er ebenfalls seinem Freund Leuthe zufolge selbstfahrenden Eisenbahnen den Garaus machte, sprechende Puppen zum Verstummen brachte und die Ausrüstungen ganzer Armeen von Zinnsoldaten vernichtete. Kurzum, der Star-Kicker war seine Arbeit schnell wieder los, sodass die Cricketer-Funktionäre für ihren nun nicht mehr verdeckten Profi gemeinsam aufzukommen hatten.

Nicht elegant, aber schnell: Auch als Läufer reüssierte Charles J. Stanfield.

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Als sich 1905 einer nach dem anderen in die Sommerfrische verabschiedete, scherte sich keiner mehr um den lebenslustigen Burschen. Nun waren es die Spieler, die ihn durchbringen mussten. Sie trafen sich jeden Tag in einem Lokal in der Leopoldstadt und stellten in lustiger Runde für jedes Schimpfwort zehn Heller für Charlie fällig. Gelang es einem, die ganze Tischgesellschaft zu beleidigen, sogar eine Krone. Freilich hatte schon damals der polyglotte Hugo Meisl das loseste Mundwerk und wurde dafür zum "Lord Goschen" (wie der gleichnamige Schatzkanzler Englands) geadelt. Das Geld wurde natürlich versoffen. Erst ein Benefizspiel, das die Cricketer-Freunde organisierten, brachte genug Geld ein, um ihn nach Hause zu schicken.

Zurück in London, verlor sich Stanfields Spur. Bis vor einigen Jahren im Nachlass des Max Leuthe eine Postkarte aus London auftauchte. Absender: Charles Stanfield. Die Karte zeigt den Piccadilly Circus. Ein Pfeil weist auf den Werbeschriftzug am London Pavillon hin. "Spaten Beer". Und dazu die handschriftliche Erklärung an seinen Freund, den Stanfield "Herr Knödel" nennt: "Ich habe ein sehr gefährlich Zeit gehabt last Samstag abends dort." Die Geschichte vom versoffenen Engländer war offenbar doch keine Zeitungsente.

Die Identität des "englischen Phantoms" in der Geschichte des Fußballbunds ÖFB klärte sich erst, als im Nunhead FC sein Londoner Klub ausgemacht werden konnte. Dank des English National Football Archive ließ sich nun eine Spur bis zum 13. Dezember 1884 zurückverfolgen – an diesem Tag war Charles J. Stanfield im damals zu Russland gehörenden Schytomyr (heute Ukraine) als Sohn eines englischen Kaufmanns zur Welt gekommen. Er war also noch keine 20, als er nach Wien kam – und nicht einmal der beste Fußballer seiner Familie. Beim Nunhead FC waren drei weitere Stanfield-Brüder tätig, von denen Harry, mit dem C. J. sich in der Saison 1905/06 66 der 116 Tore teilte, als Top-Torjäger galt.

Postkarte aus London von Stanfield an Max Leuthe.
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Sie nannten ihn Rabbit

Rührige Locals, die die Geschichte des 1949 aufgelösten Klubs hochhalten, können berichten, dass Charles 1906 einen zweiten Platz bei den Amateur Sprint Championships erreicht hat. "In a none too elegant style", wie The Sportsman bemerkte und damit auch gleich die Begründung für seinen Nickname "Rabbit" lieferte.

"The incredible story" über seine zwei Länderspiele sprach sich in London nicht herum, dafür bestätigen die Nunhead-Nostalgiker, was Charles Stanfield für Österreich einzigartig macht: Er unterschrieb im Sommer 1909 einen Profivertrag bei Preston North End, Englands erstem Meister (1888), wo er aber nicht zum Einsatz kam. In der folgenden Saison stand er beim damals erstklassigen Bury FC in den Büchern. Und am 12. Februar 1910 erzielte er bei seinem Liga-Debüt gleich sein erstes Tor. In Middlesbrough, wo Österreichs Team am Mittwoch auf England trifft. Eine Verletzung in der folgenden Saison beendete die Profikarriere. Geld verdiente er dann als Angestellter einer Zementfabrik in Cambridge.

Als er in er Universitätsstadt 1941 starb, nahm in Wien keiner Notiz davon. Das ändert nichts daran, dass Charles "Rabbit" Stanfield der erste österreichische Teamspieler in Englands höchster Spielklasse war. Und das fast neun Jahrzehnte vor Alex Manninger, Christian Mayrleb und Martin Hiden. (Horst Hötsch, 31.3.2021)