Das Begräbnis von Walter Lübcke.

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Die Tat gilt als erster rechtsextremistischer Mord an einem Politiker in der Bundesrepublik. In der Nacht zum 2. Juni 2019 wurde der CDU-Politiker Walter Lübcke auf seiner Terrasse im Landkreis Kassel erschossen. Für den Mord wurde der 47-jährige Rechtsextremist Stephan Ernst zu lebenslanger Haft verurteilt. Den Behörden galt er vor der Tat als "abgekühlter Neonazi", also nicht mehr aktiv. Tatsächlich bewegte er sich im Milieu der Neuen Rechten und spendete den österreichischen Identitären Geld, erzählt der Buchautor Martín Steinhagen im Gespräch mit Markus Sulzbacher.

STANDARD: Ist der Mord an Walter Lübcke aufgeklärt?

Steinhagen: Der Mörder, Stephan Ernst, ist in erster Instanz vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt als alleiniger Täter verurteilt worden. Zuvor hatte er allerdings ausgesagt, dass er am Tatort nicht allein war, sondern mit dem Mitangeklagten Markus H. Dem schenkte das Gericht aber keinen Glauben.

STANDARD: Warum hat das Gericht seinen Aussagen nicht geglaubt?

Steinhagen: Stephan Ernst hatte die Tat wiederholt gestanden – jedoch in drei unterschiedlichen Versionen. Das hat ihn nicht gerade glaubwürdig gemacht. So erzählte der Rechtsextremist unter anderem in einer Variante, der Schuss hätte sich unabsichtlich gelöst, in der letzten Version erklärte er, dass er und der Mitangeklagte am Tatort gewesen seien und er selbst geschossen habe. Aber es wurde nur eine DNA-Spur von Ernst am Tatort gefunden.

STANDARD: Nebenklägerin in dem Prozess war unter anderem die Familie Walter Lübckes. Wie hat sie auf das Urteil reagiert?

Steinhagen: Die Familie äußerte sich schwer enttäuscht. Sie geht davon aus, dass zwei Täter am Tatort waren. Dementsprechend sei der Freispruch von H. vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord "nicht nachvollziehbar und schwer zu verkraften", wie ein Sprecher sagte. Darüber hinaus blieben aus ihrer Sicht auch zentrale Fragen zum Tatablauf offen.

STANDARD: Warum wurde Walter Lübcke ermordet?

Steinhagen: Walter Lübcke wurde in rechten Kreisen vor Jahren zur Projektionsfläche des Hasses, nachdem er sich bei einer Bürgerversammlung im Jahr 2015 für eine Flüchtlingsunterkunft im Raum Kassel starkgemacht hatte. Die Veranstaltung wurde auch von Personen aus der rechten Szene besucht, es kam zu Zwischenrufen und Störungen. Mit dabei waren auch Stephan Ernst und dessen Freund, der später Mitangeklagte. Letzterer filmte Teile der Versammlung mit und stellte eine an die Störer gerichtete Aussage ("Wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen") von Walter Lübcke auf Youtube.

Walter Lübcke wurde in der Nacht zum 2. Juni 2019 ermordet.
Foto: Imago

Dort verbreitete sich das Video sehr rasch, und Walter Lübcke wurde zum Abziehbild des vermeintlichen Volksverräters. Dabei ist der Satz ist in einem bestimmten Kontext gefallen und war an die rechten Störer gerichtet. Das ist auf dem Videoausschnitt aber nicht wahrnehmbar, und so brach dann ein großer Shitstorm über Walter Lübcke herein – samt Todesdrohungen.

STANDARD: Ist das Video noch online?

Steinhagen: Ja. Es ist eine verzerrende Darstellung dieser Situation. Ich habe eine längere Fassung für das Buch sehen können, da sieht man auch, dass Walter Lübcke an bestimmten Stellen seiner Reden Applaus erhält und Zustimmung aus dem Saal bekommt. Es ist nicht so, dass er gegen hunderte Menschen anredet. Aber es zeigt auch, dass die Störer von anderen Besuchern der Versammlung zumindest toleriert wurden.

STANDARD: Die Tat passierte aber erst Jahre später.

Steinhagen: Im ersten Geständnis erwähnte Ernst bestimmte "Schlüsselerlebnisse", die ihn dazu veranlassten, Walter Lübcke zu ermorden. Es sind keine Erlebnisse, die er erlebt hat, sondern Ereignisse, die er medial mitbekommen hat und die in dem rechten Milieu eine große Rolle gespielt haben. Wie die Silvesternacht von Köln, bei der es sexuelle Übergriffe auf Frauen gab und viele der Täter aus nordafrikanischen Ländern stammten, islamistische Attentate und die Ereignisse von Chemnitz, bei denen ein Mann am Rande eines Stadtfestes niedergestochen wurde und an den Folgen der Verletzung verstarb. Für die Tat wurde ein Mann aus Syrien später verurteilt.

STANDARD: Ereignisse, die auch in Österreich von der extremen Rechten aufgegriffen wurden. Wie ist Stephan Ernst politisch zu verorten?

Steinhagen: Er war in der harten Neonaziszene aktiv, ist dort aber in den letzten Jahren nicht mehr auffällig geworden. Er hat sich Pegida, der AfD und dem Medienbiotop der extremen Rechten zugewandt, also jenem Milieu, das mit dem Schlagwort Neue Rechte umschrieben wird. Die AfD hat er auch im Wahlkampf unterstützt.

STANDARD: Vom Neonazi zum Neuen Rechten. Das kommt öfters vor, wenn man sich die Biografien österreichischer und deutscher Aktivisten ansieht.

Steinhagen: Erfolg macht attraktiv, das ist auch bei den Rechtsextremisten so. Es macht einen Unterschied, ob man mit 200 Neonazikameraden bei einer Demonstration von der Polizei eingekesselt wird oder gemeinsam mit tausenden Leuten, darunter AfD-Politiker, Hooligans und ganz normale Bürger, durch Chemnitz läuft. "Wir werden immer mehr", beschrieb Ernst die Stimmung in einer Chatnachricht, die ich für das Buch einsehen konnte. Der Eindruck, dass bestimmte ideologische Positionen, die man schon immer vertreten hat, nun auf einmal mehrheitsfähig werden, hat es ihm angetan.

Martín Steinhagen hat das Buch: "Rechter Terror – Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt" geschrieben.
Foto: peter-juelich.com.

STANDARD: Hatte er noch Kontakte in die Neonaziszene?

Steinhagen: Ja, er pflegte noch persönliche Kontakte. Nicht jedoch zu der Szene, aus der er kam. Er war beim Anschlag Mitte 40, da hat dieses Neue-Rechte-Milieu besser zu seinen Lebensumständen gepasst.

STANDARD: Stichwort Neue Rechte: Stephan Ernst hat den Identitären Geld gespendet.

Steinhagen: Vermutlich sind die Identitären eine der wenigen Organisationen, die nach einem rechtsterroristischen Anschlag die eigenen Konten durchleuchten. In Deutschland haben sie das nach der Festnahme von Stephan Ernst getan. Dabei sind sie auch fündig geworden und haben sich selbst bei der Polizei gemeldet.

STANDARD: Und er hat auch die österreichischen Identitären unterstützt?

Steinhagen: Ja, er spendete ihnen Ende März 2018 Geld auf ein ungarisches Konto, das damals unter anderen von Martin Sellner verbreitet wurde, weil man das Problem hatte, dass Banken immer wieder ihre Konten geschlossen haben. Als Verwendungszweck seiner Spende gab Ernst "Audimax" an. Dieser Verwendungszweck und das Datum verweisen darauf, dass es um den Audimax-Prozess ging, bei dem es um die Störung eines Theaterstücks von Elfriede Jelinek im Audimax der Universität Wien durch Identitäre gegangen ist. Und die österreichischen Identitären haben das Gerichtsverfahren auch genutzt, um Spenden zu sammeln.

STANDARD: Der Attentäter von Christchurch, der 51 Menschen ermordete, hat Identitären-Sprecher Martin Sellner 1.500 Euro überwiesen. Warum hat es der Mörder von Walter Lübcke der Gruppe gespendet?

Steinhagen: Der Mörder von Walter Lübcke war in diesem rechtsextremen Medienbiotop im Netz viel unterwegs und hat auf Youtube Videos von "rechtsextremen Influencern" angeschaut, darunter offenbar auch welche von Martin Sellner. Diese und andere Spenden, die ich im Buch auswerte, sind ein Hinweis, dass er sich jetzt in diesem Umfeld politisch zu Hause fühlte und sich auch finanziell solidarisch zeigte.

Martin Sellner (ganz rechts) im Mai des vergangenen Jahres bei der Kundgebung der FPÖ.
Foto: Markus Sulzbacher

STANDARD: Wie finden Sie Deplatforming, also die Sperre von rechtsextremen Accounts auf Twitter, Youtube und anderen Onlineplattformen?

Steinhagen: Es ist auf jeden Fall ein gutes Mittel, um zu verhindern, dass Leute zufällig auf rechtsextreme Propaganda stoßen, und es verhindert, dass die extreme Rechte ihre Videos monetarisieren kann. Insofern ist das schon ein Schlag, der den Betroffenen wehtut. Das zeigen auch deren Reaktionen.

STANDARD: Warum reagiert der deutsche Staat auf rechten Terror immer so verhalten?

Steinhagen: Ich glaube, es gibt beim Rechtsterrorismus eine sehr lange Tradition der Verharmlosung dieser Taten. Nach dem Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag von Halle und dem Anschlag von Hanau ist aber eine rhetorische Verschiebung zu erkennen. Für die Spitzen der Sicherheitsbehörden und auch für den Innenminister Horst Seehofer (CSU) geht seither die größte Gefahr vom Rechtsextremismus aus, wie sie sagen. Der Mord an Walter Lübcke sei eine Zäsur, zugleich hat man nicht den Eindruck, dass sich auf einen Schlag von einem Tag auf den nächsten im Umgang alles geändert hat.

STANDARD: Wie hat die CDU auf den Mord reagiert?

Steinhagen: Es wurde unter anderem der Abgrenzungsbeschluss zur AfD bekräftigt und in diesem Kontext explizit auf den Mord an Lübcke verwiesen. Es ist die Frage, ob dieser Konsens in allen Teilen und auf allen Ebenen der CDU hält. Und ob die Tat Auswirkungen auf die Umfragewerte oder die Wählerschaft der AfD hat, wage ich zu bezweifeln. (Markus Sulzbacher, 1.6.2021)