In Israel gehört es zu den eher exotischen Fantasien, über die Politik des Landes zu sprechen, ohne den Namen Benjamin Netanjahu auszusprechen. Seit zwölf Jahren schon ist der 71-Jährige ohne Unterbrechung an der Macht. Das mag in anderen Ländern gar nicht so lange wirken – Israel aber ist ein junger Staat. Und einer, der sich mit laufenden Angriffen von außen, tiefen Klüften im Inneren und der stets umstrittenen Frage, wo nun eigentlich die Grenzen dieses Staates verlaufen, herumschlägt. Ein Land im Dauerkrisenmodus – das sind nicht die allerbesten Voraussetzungen für einen Regierungschef, um sich lange im Sattel zu halten. Schon gar nicht mehr als ein Jahrzehnt lang.

Benjamin Netanjahu ist seit zwölf Jahren ohne Unterbrechung an der Macht.
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Netanjahu trotzte allen Widerständen, er hatte sie ja selbst produziert. Schwere Korruptionsvorwürfe führten dazu, dass er zum ersten Regierungschef wurde, der sich in laufender Amtsperiode einer Anklage gegenübersieht – noch dazu einer, die seine moralische Zurechnungsfähigkeit infrage stellt. Jeden Samstag versammelten sich Demonstranten nicht nur vor seinem Haus, sondern auf Autobahnbrücken im ganzen Land, um den Rücktritt von "Crime Minister" Netanjahu zu fordern.

Die vergangenen zwei Jahre brachten dem Land eine dauerhafte Regierungskrise, ein Stolpern von Neuwahl zu Neuwahl – das alles änderte nichts daran, dass Netanjahus Likud-Partei die stärkste Kraft im Parlament blieb.

Verhängnis

Netanjahu hat sich zum einzigen Inhalt seiner Partei gemacht. Als ihm das gelungen war, ging er dazu über, auch Israels politischen Diskurs ganz auf seine Person zu reduzieren. Genau das wird ihm nun zum Verhängnis. In Israel konnte keine Wahl mehr stattfinden, ohne dass sich die Parteien zuvor festlegten: pro oder kontra Netanjahu? Selbst jene Kräfte, die Netanjahus Gesinnung teilen, fühlten sich von seiner autoritären Art des Führens immer öfter abgestoßen.

Die Wähler haben dem Befürworter-Lager keine Mehrheit mehr gegeben. Nun ist das Gegner-Lager auf dem besten Weg zur Regierungsbildung. Israel könnte jenen Wandel erleben, den sich viele seit langem erhoffen: eine stillere Form des Regierens. Die massiven Angriffe auf Justiz und Medien, die verstärkte Überwachung, ausgeweitete Befugnisse für Polizei und Geheimdienste, Einschnitte in Minderheitenrechte: Tendenzen, die auch in mehreren europäischen Ländern sichtbar sind, haben vor Israel nicht haltgemacht. Nicht ganz zufällig zählt Netanjahu die Regierungen ebenjener europäischen Staaten zu seinen engsten Verbündeten.

Wer sich erwartet, dass die Regierung des "Wandelsblocks" eine radikale Kehrtwende einleitet, wird aber wohl enttäuscht werden. Der Kitt, der diesen Block zusammenhält, ist die gemeinsame Ablehnung Netanjahus. In ideologischer Hinsicht trennt die Regierungspartner mehr, als sie eint. In ihrem Bestreben, den Einfluss des Höchstgerichts zu begrenzen und den Bau von Siedlungen im Westjordanland auszuweiten, haben manche Kräfte dieser Allianz des Wandels mehr mit Netanjahu gemeinsam als mit ihren Partnern in der künftigen Koalition. Netanjahu hält den Keil, den er nun, so oft es geht, zwischen die Koalitionsparteien treiben wird, bereits fest in der Hand.

Ja, Israel mag am Beginn einer neuen Regierungsära stehen. Vom Ende der Ära Netanjahu ist das Land aber noch ein gutes Stück entfernt. (Maria Sterkl, 31.5.2021)