Der deutsche Schauspieler Oliver Masucci auf dem Sprung nach Hollywood.

Foto: Julia Sellmann

Gerade ist Oliver Masucci auf allen Kanälen. In der Netflix-Saga Tribes of Europa spielt er eine Hauptfigur, im Biopic Enfant terrible gibt er den Regisseur Rainer Werner Fassbinder, und auf dem Streamingdienst Starzplay gehört er zum Ensemble der Serie The Girlfriend Experience.

Der 52-Jährige startet durch, Hollywood ruft ihn für Actionrollen an, doch erst einmal heißt es: ausruhen. Die Dreharbeiten zu einem Vampirfilm wurden gestoppt – eine Corona-Infektion im Team – und alle Darsteller in die Hotelquarantäne geschickt. Aus Atlanta schaltet sich Masucci per Videoanruf zu. Munter, gesprächig, ein bisschen gelangweilt, aber wenigstens konnte er sich in den USA sofort gegen Corona impfen lassen.

STANDARD: Herr Masucci, hierzulande wurden Sie mit der Hitler-Satire Er ist wieder da bekannt. The Girlfriend Experience ist eine amerikanische Produktion, in London haben Sie den dritten Teil der Phantastischen Tierwesen abgedreht. Ein Aufbruch in die Königsklasse?

Oliver Masucci: Qualitativ ist das eine andere Liga. Wir haben tolle Künstler in Deutschland, da fehlen nur die Mittel. In England sagen die Produzenten, wir drehen ein Superactionmovie, und am Ende kommt James Bond dabei raus. Bei uns können wir nur einen Film machen, in dem sich jemand einen Pyjama anzieht und Spider-Man draufmalt. Als ich mit Mads Mikkelsen im Studio stand ...

STANDARD: Der dänische Schauspieler spielt den Bösewicht in "Phantastische Tierwesen" ...

Masucci: ... auf einer Bühne, die eine Bergkette darstellte, mit Treppen und Tempel, da raunte er mir zu: Diese Kulisse kostet so viel wie ein ganzer Film bei uns.

STANDARD: Für jede Rosamunde-Pilcher-Verfilmung im ZDF sind Sie nun verloren.

Masucci: Hoffnungslos! Das ZDF hat ein Gagensystem, das entspricht dem einer Beamtenanstalt. Da wird kein Marktwert bezahlt, sondern kriegt derjenige mehr Geld, der länger dabei ist. Mir als 45-Jährigem wurde nach einem Millionen-Kinoerfolg gesagt: Du hast bei uns noch nichts gemacht, du fängst in der unteren Gehaltsstufe an. 30 Jahre Ausbildung auf der Bühne? Zählen nicht. Es geht nur darum, wer schon mal mit dem Sender gedreht hat.

STANDARD: Schöner Nebeneffekt an großen Budgets: Sie kommen in besseren Hotels unter.

Masucci: Vor drei Wochen bin ich in Atlanta angekommen, um mit Jamie Foxx einen Vampirfilm zu drehen. Toller Blick auf die Stadt, aber zwei Wochen im Zimmer können sehr einsam werden.

STANDARD: Was machen Sie den ganzen Tag?

Masucci: Ich schaue Filme, schreibe an einem Drehbuch. Mein Sohn soll Spanisch lernen, in einem nichtdigitalisierten Deutschland! Wieso gibt es keinen Online-Unterricht? Ist nicht vorgesehen, sagte die Lehrerin. Ich habe geantwortet: Wenn ich wollte, dass mein Sohn sich selbst die Sprache beibringt, hätte ich ihn bei Babbel angemeldet. Letzten Endes habe ich genau das getan, und wir lernen gerade zusammen. Ansonsten koche ich viel, wenn mir langweilig ist – mit Erlaubnis der Direktion. Kochen ist für mich Heimat. Das habe ich noch vor der Schauspielerei gelernt.

STANDARD: Ihre Eltern betrieben mehrere Restaurants in Bonn.

Masucci: "Schwarz-Weiß Bonn", Tennisklub im Wald, oben auf dem Venusberg, da hatten sie das erste Restaurant. Ich erinnere mich, wie wir im Herbst Eicheln und Kastanien sammelten, bei Haribo gegen Gummibärchen eintauschten, weil der Gründer Hans Riegel die für seinen privaten Wildpark brauchte.

STANDARD: Wie war es, in einer relativ kleinen Stadt voller Politiker und Diplomaten aufzuwachsen?

Masucci: Es gab gefühlt mehr Polizei als Einwohner. Permanent fanden Alkoholkontrollen statt, alle meine Freunde haben ständig den Führerschein verloren. Als 14-Jährige haben wir uns auf einem Stadtfest betrunken, sind zu einem Polizeiauto gegangen und haben gelallt: "Tschuldigung, wir sind minderjährig und haben kein Geld für ein Taxi. Können Sie uns nach Hause fahren?" Die haben das gemacht, so behütet war die Stadt.

STANDARD: Von der großen Politik haben Sie nichts bemerkt?

Masucci: In den 70er- und 80er-Jahren hörten wir viel von der RAF, sahen die Fahndungsplakate auf der Post hängen. Eine Zeitlang konnte ich die Worte Terrorist und Tourist nicht unterscheiden. Als wir einmal nach Gran Canaria flogen, sagte meine Mutter: Hier sind so viele Touristen. Da habe ich mich total erschrocken. Später war ich mit Caroline von Braunmühl befreundet. Im Herbst 1986 bin ich abends mit dem Fahrrad gefahren, da war unsere Straße zugesperrt, ihr Vater Gerold, ein Diplomat, lag tot auf dem Asphalt, erschossen vom ideologisch verirrten Blei der RAF. Ich kannte ihn, stand heulend da. Seit diesem Tag habe ich ein tiefverwurzeltes Misstrauen gegenüber allen Ideologen.

STANDARD: Ihr Vater ist Italiener. Hatten Sie Probleme wegen Ihrer Herkunft?

Masucci: In der frühen Kindheit war das ein Thema. So lange, bis ich mit 14 einem Jungen aufs Maul gehauen habe, der rückwärts übers Geländer flog und schrie: Der Masucci ist verrückt geworden. Davor habe ich mich verprügeln lassen, mir eingeredet, als Ausländerkind kann ich die Sprache nicht richtig, und habe mich selbst ausgegrenzt.

STANDARD: Wie haben Sie dann die Schauspielerei entdeckt?

Masucci: Vor dem Restauranttresor habe ich als Zehnjähriger einen 100-Mark-Schein gefunden, den habe ich mir eingesteckt und komplett ins Kino getragen. Für 50 Pfennig in den Bus – und dann ins Programmkino Woki. Da kannte ich den alten Herrn, der in der Glasbox die ganze Zeit Zigarillos geraucht und Karten für zwei Mark verkauft hat. Stundenlang habe ich Kung-Fu-Filme, Western und B-Movies angeguckt. Zu Hause vor dem Fernseher hatten mein Bruder und ich ein Qualitätsmerkmal: Die Filme mussten oben und unten einen Streifen haben. Wie bei John Wayne und den Spaghetti-Western von Sergio Leone. Breite Bilder, das wollten wir.

STANDARD: Als Sie Ihrem Vater sagten, dass Sie Schauspieler werden möchten, antwortete er: "Traumtänzer".

Masucci: Träumertänzer! So sagte er es in seinem Akzent.

STANDARD: Er hat Sie nicht verstanden. Erwuchs aus diesem Schmerz der Antrieb für Ihren Job?

Masucci: Ja, ich habe mich an den Rand gedrängt gefühlt. Zu Hause lief mir mein Vater um den Tisch hinterher, wenn ich sagte, ich will Theater machen. Für die Lehrer war Kunst Unsinn. Die dachten, du wirst ein Vagabund, ein armer Schlucker. Nur meine Deutschlehrerin hat mich in die Theater-AG geholt. Ich erinnere mich an diesen schönen Moment, als wir die Dreigroschenoper probten und das Lied der Seeräuber-Jenny erklang. "Und ein Schiff mit acht Segeln, und mit 50 Kanonen." Ich musste zum ersten Mal vor Rührung weinen. Habe mich geschämt für die Emotionen, aber gleichzeitig hat mich der Moment beflügelt. Das war eine Welt, in der ich mich aufgehoben fühlte. So ist die Bühne als Sehnsuchtsort entstanden.

STANDARD: Nach dem Abitur wurden Sie an der Schauspielschule Berlin genommen. Was hat Ihr Vater gesagt?

Masucci: Du Arschloch, von mir kriegst du kein Geld!

STANDARD: Hat er das durchgehalten?

Masucci: Nicht ganz. Er hatte Angst, klar, kam aus dem armen Napoli, war quasi ein Wirtschaftsflüchtling, hat jeden Tag von morgens bis abends wie ein Berserker geschuftet. Leben ist Arbeiten, hat er gesagt. Und Schauspielerei war Spinnerei für ihn. Lange hat er mich getriezt, dass ich kein Geld damit verdienen würde. Ich war gezwungen, sofort Aufträge zu bekommen, um es ihm zu beweisen, und habe den ganzen deutschen Theaterraum beackert. Ich musste in den letzten Kaschemmen wohnen. Theater Bochum, die Gästewohnung! Villa Wahnsinn haben wir die genannt. Da blieb nur noch der Weg in die Kneipe, um sich nicht in der Bude zu erhängen.

STANDARD: Was war so schlimm an der Unterkunft?

Masucci: Stellen Sie sich ein altes Haus vor, in den 60er- Jahren zuletzt renoviert, Kachelalarm, alles abgeranzt, zugemüllt, mit Schimmel im Bad und einer durchgelegenen Matratze. Hinten guckst du auf eine graue Mauer, abends sollst du der Star sein.

STANDARD: Der britische Schauspieler Rupert Everett hat einmal einer Theaterbesucherin, die ihn kritisiert hat, Schamhaare nach Hause geschickt. Wie reagieren Sie auf Tadel?

Masucci: Den muss ich lächelnd ertragen. Ich habe die ersten zehn Jahre fast jeden Abend Stücke gespielt, die nicht fertig waren. Die Regisseure hatten nur Konzepte. Wenn ich das Wort schon hörte, bin ich weggelaufen. Aber am Ende mussten wir Schauspieler rausgehen und dafür geradestehen. Ich habe damals kapiert, dass ich nicht jedem gefallen kann, mich nicht abhängig von Zuschauern machen darf. Sonst stürzt dich jede Kritik in Depressionen. Ich kenne Kollegen, die sich deswegen in der Garderobe besoffen haben und nur auf Vollstrom spielen konnten, bis es gar nicht mehr ging. Ich habe inzwischen eine andere Taktik: Ich klopfe mir auf die Schulter und gebe mir selbst Kritik.

STANDARD: Sie haben auch am Burgtheater in Wien gespielt. Kam das dort gut an?

"Ich wollte mich nicht vom Allmachtsanspruch der Regisseure abhängig machen." Oliver Masucci
Foto: Julia Sellmann

Masucci: Die Kollegen fanden das arrogant – mir war’s egal. Ich wollte mich nicht vom Allmachtsanspruch der Regisseure abhängig machen. Manche suchten nur Marionetten, die nach ihrem Willen tanzen. Sollen sie tun, aber nicht mit mir.

STANDARD: Von Christoph Waltz kommt der Satz: "Die Österreicher sind höflich und meinen es nicht so."

Masucci: Man darf dem Lob nicht auf den Leim gehen. Da wird sich das Maul zerrissen, wenn du den Raum verlassen hast. Wien war einmal ein Hofstaat, das lebt noch fort in der Stadt. Viel Speichelgelecke nach oben und Getrete nach unten.

STANDARD: Ist die Burg trotzdem ein guter Ort für Schauspieler?

Masucci: Na klar, aber auch ein gefährlicher. Im Bewusstsein der anderen hast du es geschafft. In deren Kopf bist du der Burgschauspieler, wenn du wieder weggehst, ist das ein sozialer Abstieg. Da setzt eine Angst ein, diese Position wieder zu verlieren. Das habe ich an mir sehr schnell gemerkt. Nach drei Monaten dachte ich, wie furchtbar, das muss doch weitergehen.

STANDARD: Dafür haben Sie es lange ausgehalten: sieben Jahre.

Masucci: Die letzten zwei Jahre war ich nur als Gast dort. Ich wollte endlich Film machen. Oft erhielt ich Angebote, konnte sie jedoch wegen meines Vertrags nicht wahrnehmen. Ich hatte mich im Theater ausgespielt, brauchte nicht mehr dieses ständige Klatschen. Nach dem Applaus ist vor dem Applaus, die Probleme bleiben die gleichen.

STANDARD: Sechs Jahre später sind Sie auf dem Sprung nach Hollywood. Wollen Sie umziehen?

Masucci: Ich habe drei Kinder, da will ich noch nicht abhauen. Ich kann mir vorstellen, ab und zu in Amerika zu drehen oder in England. Aber auf Teufel komm raus brauche ich keine internationalen, sondern gute Rollen. Ich kann mir nicht vorstellen, in den USA Klinken zu putzen und überall vorzusprechen. Das machen junge Leute.

STANDARD: Trotzdem werden Sie in Hollywood wie beim ZDF einsteigen: auf unterster Stufe.

Masucci: Aber mit besseren Gagen! Ich spiele nicht die Hauptrollen, aber ich fange auch nicht mit zwei Sätzen an. Es sind schon richtige Monologe.

STANDARD: Und Sie kämpfen in Actionszenen gegen Jamie Foxx. Ist deshalb Ihre linke Hand verletzt?

Masucci: Nein, ich bin begeisterter Mountainbiker, letztes Jahr in Lenzerheide blöd ausgerutscht und habe mir das Kahnbein gebrochen. Nach acht Monaten ist das Handgelenk endlich geheilt, ich steige aus der Badewanne, keine Schmerzen, wie geil! Dann bin ich auf dem Weg zum Flughafen über meine schweren Koffer gefallen, die Treppe runter, und habe mir die Speiche gebrochen. Ich habe mir eine Gipsschiene verpassen lassen und bin ab in den Flieger.

STANDARD: Sie sind hart im Nehmen.

Masucci: Soll ich zu Hause rumliegen und auf den tollen Film verzichten? Das ist die jahrelange Bühnenerfahrung: Der Lappen muss hoch am Abend. Ich bin schon mit einem Bandscheibenvorfall unterm eigenen Gewicht zusammengebrochen und habe die Vorstellung zu Ende gespielt. Alte Schule. Mein Papa hat immer gesagt: Beiß dich durch! (Ulf Lippitz, RONDO exklusiv, 17.6.2021)