Er gilt als Erfinder der Molekularküche: der spanische Spitzenkoch Ferran Adrià

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In den 1990er-Jahren wollten alle in diese Olive beißen. Diese Olive, die aussah wie eine Olive, aber keine war. Es handelte sich um Olivensaft, der mit Tricks der Molekularküche zu einer Kugel geliert wurde. Ihr Schöpfer, Ferran Adrià, nannte die Kugel aus Olivensaft "Sphäre". Gemeinsam mit wolkengleichen "Espuma"-Schäumchen sollte sie in den Folgejahren einen Fixplatz auf den Tellern der internationalen gastronomischen Avantgarde einnehmen.

Mehr als zwei Jahrzehnte später sind molekulare Kochtechniken zwar zu großen Teilen aus der Gastronomie verschwunden, Adriàs kulinarische Sprache prägt die Branche und ihre Aushängeschilder aber bis heute. So gut wie jeder der renommiertesten Küchenchefs der Gegenwart, beispielsweise der Däne René Redzepi und der US-Amerikaner Grant Achatz, ist auf irgendeine Weise mit Ferran Adrià verbunden oder hat in seinem Restaurant El Bulli, das von der World’s-50-Best Restaurants-Jury fünf Mal als bestes Restaurant der Welt ausgezeichnet wurde, gearbeitet.

Neuanfang

2011 servierte Ferran Adrià das letzte Menü im El Bulli, zog sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück und hinterließ sie mit der Frage: Warum hört ein Genie wie er am Zenith seines Ruhms und Einflusses auf?

Dabei hörte er gar nicht auf, er fing nur neu an. Widmete sich im Rahmen seiner Elbullifoundation der Forschung und Projekten wie der umfassenden gastronomischen Enzyklopädie Bullipedia oder Sapiens, einer Methode, um Kreativität zu lehren und zu instrumentalisieren. Jetzt, zehn Jahre nach dem Ende von El Bulli, ist Ferran Adrià zurück am Herd seines legendären Restaurants. Gemeinsam mit zehn Köchinnen und Köchen, ausgewählt unter Tausenden von Bewerbern.

"Es war ein sehr emotionaler Moment", twitterte Adrià am 14. April 2021. Wer sich nun aber kurz vor einer Tischreservierung wähnt, der irrt. "Ich brauche das Chaos des Unvorhersehbaren", sagt Adrià. Reservierungen oder Guide-Bewertungen sind ein Korsett, in das sich der Superkoch nie mehr zwängen will.

Deswegen öffnet das El Bulli auch nicht mehr als normales Restaurant, sondern als Denkfabrik, die die Branche voranbringen soll. In Grundzügen hatte das El Bulli schon anno dazumal ähnlich funktioniert. Es war das erste Restaurant der Welt, das eine Testküche installierte, in der Ideen abseits vom Tagesgeschäft ausprobiert werden konnten.

Ein Ansatz, den heute tausende Restaurants rund um den Globus verfolgen. "Alles, was wir jetzt entwickeln, wird geteilt. Dazu zählen auch Konzepte, wie Restaurants wirtschaftlich funktionieren. Sonst nützt alle Kreativität nichts", betont der 59-Jährige. Das hätte die Krise eindrücklich gezeigt.

Die nächste Revolution

Ferran Adrià war seiner Zeit schon immer voraus. "Sie haben mich gekreuzigt, als ich angefangen habe, Gerichte zu dekonstruieren." Bis sie selbst gelernt hätten, Dinge zu hinterfragen, lächelt Adrià.

Wann die nächste kulinarische Revolution komme, wisse er nicht, betont der Katalane. Dass er eine losgetreten hat und wohl neben Carême und Escoffier, die Jahrhunderte vor ihm gelebt haben, als einer der einflussreichsten Köche des Erdballs in die Geschichte eingehen wird, ist ihm aber durchaus bewusst. Und solange er kann, will er auch zukünftig der Gastronomie und der Kreativität dienen. Will dafür sorgen, dass die Evolution des Kochens umfassend aufgezeichnet wird, so wie zu Zeiten, als Kunst und Architektur universitäre Disziplinen wurden.

Verortet ist diese Arbeit im 3000 Quadratmeter umfassenden El-Bulli-Lab in Barcelona sowie im El Bulli 1846. Letzteres befindet sich auf dem ursprünglichen Areal des El-Bulli-Restaurants in Roses, zwei Autostunden vor Barcelona. Ab 2022 ist das Museum, in das ein Teil des El-Bulli-Restaurants im Originalzustand integriert ist, für alle zugänglich. Der Rest des Areals bietet Platz für kreatives Denken und die Bewahrung des Vermächtnisses von El Bulli.

Tausende Ideen

Im Gespräch mit dem mittlerweile gänzlich ergrauten, aber nach wie vor im typischen schwarzen Leiberl und mit bunten Armbändern am Handgelenk auftretenden Adrià klingt das alles noch nach einer leicht chaotischen Vision. Doch Ferran Adrià hat einen Plan.

Den hatte er in Wahrheit schon 2016, als er, umgeben von tausenden Ideen auf kleinen Zetteln und hunderten Magazin-Covers, die er zierte, im El-Bulli-Lab bis ins Detail skizzierte, wie der Bau an der Bucht Cala Montjoi heute aussieht: hier Museum, da Küche, hier Denken und Instrumentalisieren von Ideen.

Dass die Menschen in der Regel erst Jahrzehnte später verstehen, was er anstößt, daran dürfte sich Ferran Adrià inzwischen gewöhnt haben. Heute lächelt er, zupft sein leicht ausgewaschenes T-Shirt zurecht und wiederholt geduldig: "Ja wir kochen wieder im El Bulli. Aber nein, reservieren kann man nicht." (Nina Wessely, RONDO exklusiv, 13.6.2021)