"Einem Menschen gegenüberzusitzen, der zig Millionen gewonnen hat, ist irgendwie ein surreales Gefühl. Aber ich freu mich mit jedem", sagt Harald Klingler.

Illustration: Sebastian Schwamm

Das Foyer im Gebäude der Österreichischen Lotterien am Wiener Rennweg ist verwaist an diesem Morgen. Bis auf eine junge Frau, die sich nach dem Begehr des Eintretenden erkundigt. Sie stellt dem Besucher einen Gastausweis aus. Im dritten Stock des Gebäudes trifft man den Hochgewinn-Betreuer Harald Klingler (Name von der Redaktion geändert) in einem verglasten Raum mit schwarzen Ledersofas.

400 Menschen ab einem Gewinn von 80.000 Euro berät der Mann im Jahr, und das in allen Bundesländern. Seine Dienste sind ein Service der Lotterien, das in Anspruch genommen werden kann, aber nicht werden muss.

Klingler ist ein großgewachsener, sympathischer Mann, der etwas lässig Stoisches ausstrahlt. Das wird schon nach den ersten Antworten klar. Nur bei einer Sache kennt er keinen Spaß. Fotografiert werden will er nicht. Auch nicht von hinten im Gegenlicht. Warum? Das erklärt er im Gespräch.

STANDARD: Was ist das Schönste an Ihrem Job?

Harald Klingler: Wenn ich mich von einem Gewinner nach einem Beratungsgespräch verabschiede und sage: "Bis zum nächsten Mal!" Dann wird gelächelt.

STANDARD: Waren Sie denn tatsächlich schon zweimal beim selben Gewinner?

Klingler: Ja, im vergangenen Jahr sogar viermal. Ein Mann hatte seinen zweiten Sechser gehabt. Auch das gibt’s.

STANDARD: Erzählen Sie mehr.

Illustration: Sebastian Schwamm

Klingler: Als ich zu ihm kam, sagte er: "Ah, Sie sind neu, weil beim letzten Mal war jemand anderer da." Ganz cool.

STANDARD: Und dann hat er Champagner kredenzt?

Klingler: Nein, Kaffee und Wasser. Champagner ist mir auch schon angeboten worden, aber ich bin ja im Dienst und fahre viele Kilometer. Deshalb gibt’s keinen Alkohol.

STANDARD: Wie sieht es mit großzügigem Trinkgeld für Sie aus?

Klingler: Es kommt vor, dass mir etwas angeboten wird, aber ich bitte die Menschen, die mir etwas geben wollen, das Geld zu spenden. Es gibt überhaupt viele Gewinner, die nicht wenig spenden.

STANDARD: Welche Voraussetzungen sollte man für Ihren Job mitbringen?

Klingler: Man sollte gerne reisen und zuhören, um den Menschen auch psychologisch zur Seite stehen zu können. Viele Lotto-Gewinner möchten sich jemandem anvertrauen können, weil sie sich in der Regel nach einem Gewinn nur wenigen öffnen.

STANDARD: Weil sie Angst haben, angepumpt zu werden, oder sich vor Neid fürchten?

Klingler: Ja, auch das zählt zu meinen Erfahrungen, deshalb empfehle ich Menschen, die aus einem kleinen Ort kommen, trotz Bankgeheimnisses ein Konto in einer anderen Gemeinde zu eröffnen. Bei einem Lottogewinn tun sich viele Fragen auf, zum Beispiel "Welchem Kind gebe ich wie viel?", "Wie erkläre ich dem Nachbarn das neue Auto?". Deshalb ist es auch ein Vorteil, dass der Gewinn erst nach vier Wochen ausbezahlt wird. Das gibt den Leuten Zeit, um ein bisschen herunterzukommen.

Illustration: Sebastian Schwamm

STANDARD: Was sind denn die gängigen Reaktionen der Gewinner, wenn Sie vor der Tür stehen? Jubeln diese Glückspilze, knallen die Korken, oder verstecken sie sich eher hinter der Tür, damit die Nachbarn nichts mitkriegen?

Klingler: Es gibt eine ganze Palette. Vor allem kommt es auf die Höhe des Gewinns an. Für manche sind 100.000 Euro alles. Für andere wiederum bedeutet dieser Betrag halt die Rückzahlung eines Kredits und ein neues Auto. Basta.

STANDARD: Reden wir doch von einem richtig fetten Lotto-Sechser!

Klingler: In dem Fall machen sich die Leute schon wirklich Gedanken. Dabei kommen auch die schönsten Gespräche zustande. Ein Pensionist schwärmte davon, sich endlich eine Harley Davidson kaufen zu können. Dann stellte sich heraus, dass er erst den Führerschein machen musste. Ein anderer teilte mir seine hochtrabenden Pläne mit. Da sagte ich ihm, dass dann aber von seinen 45 Millionen immer noch 40 übrig wären.

STANDARD: Kennen Sie auch Geschichten von jenen Momenten, in denen Menschen vor dem Fernseher sitzen und checken, dass sie gerade den Jackpot geknackt haben?

Klingler: Es ist eigenartig. Jeder spielt, um zu gewinnen. Gewinnt dann tatsächlich jemand, sagt er oder sie, man hätte nicht damit gerechnet. Viele glauben es im ersten Moment gar nicht, kontrollieren den Schein des Öfteren, rufen bei uns an. Es handelt sich meistens um eine Art Schock. Dann kommt die Vorfreude.

STANDARD: Was empfehlen Sie denn Ihrer Kundschaft?

Illustration: Sebastian Schwamm

Klingler: Wie gesagt, wir raten den Menschen, sich zu beruhigen, zu überlegen und sich eine Liste mit Wünschen anzulegen.

STANDARD: Was steht denn auf diesen Listen?

Klingler: Kredit abzahlen, Wohnung oder Haus kaufen oder renovieren, neues Auto, die Kinder versorgen, dann kommen Urlaube, die man sich bislang nicht leisten konnte, et cetera. Die schönsten Wünsche für mich sind, wenn sich zum Beispiel jemand endlich eine Heimhilfe im Krankheitsfall leisten oder die Wohnung barrierefrei gestalten kann.

STANDARD: Das wäre dann das andere Ende der Fahnenstange? Ich meine den Gegensatz zum Prasser, der sich gleich einmal einen Bentley vor die Tür stellt. Die gibt’s aber schon auch, oder?

Klingler: Die gibt’s auch, sind aber in der Minderheit.

STANDARD: Fast jeder hat sich schon einmal ausgemalt, was er denn mit einem Sechser anfangen würde. Sie auch?

Klingler: Ja, immer wieder. Ich mache gerade den Motorbootschein, würde mir also ein Boot kaufen.

STANDARD: Um Hausnummer fünf Millionen Euro wäre das ein schönes Boot …

Klingler: Ja, eh. Soll ja auch ein schönes sein.

STANDARD: Frönen Sie denn dem Glücksspiel?

Klingler: Immer wieder, ja, Lotto und Euro-Millionen.

STANDARD: Sie machen den Job nun seit einem Jahr. Was haben Sie denn für sich selbst über die Menschen in dieser Zeit gelernt?

Klingler: Ich bin erstaunlich viel Bescheidenheit und Dankbarkeit begegnet. Im vergangenen Jahr haben viele ältere Menschen gewonnen. Die sagen sich: "Ich habe viel erreicht, wir haben gut gelebt, und der Gewinn ist ein schönes Zuckerl für die Pension." Viele hätten sich dieses allerdings schon früher gewünscht.

Illustration: Sebastian Schwamm

STANDARD: Wie viele schmeißen nach einem Sechser gleich den Job hin?

Klingler: Niemand. Letze Woche war ich bei einem frischgebackenen Millionär, der noch zwei Jahre arbeiten muss, bis er in Pension gehen kann. Der will ganz normal bis zum Schluss weiterarbeiten.

STANDARD: Lassen Sie mich ein Horrorszenario ansprechen. Ich habe einen Sechser und finde meinen Schein nicht mehr. Was dann?

Klingler: Juristisch betrachtet haben Sie ohne Schein keinen Anspruch auf den Gewinn. Es kann aber auch zu Kulanzlösungen kommen. Wenn Sie zum Beispiel eine Kopie haben oder beweisen können, dass Sie immer diese und jene Zahlen spielen. Anspruch besteht aber keiner.

STANDARD: Wie oft kommt so etwas vor?

Klingler: Bei einem Sechser weiß ich von keinem Fall. Die Leute passen sehr gut auf ihre Quittungen auf. Als ich beim letzten Gewinner auftauchte, hatte der seine Quittungen versperrt in einem feuerfesten Behälter aufbewahrt. Aus lauter Angst vor Einbrechern, Feuer, Hochwasser, oder dass der Hund den Schein frisst.

STANDARD: Haben manche Angst, dass Sie mit dem Schein durchbrennen?

Klingler: Nein, jeder, den ich besuche, bekommt von mir eine Bestätigung.

STANDARD: Sind Sie manchmal neidisch auf die Gewinner?

Klingler: Einem Menschen gegenüberzusitzen, der zig Millionen gewonnen hat, ist irgendwie ein surreales Gefühl. Aber ich freu mich mit jedem.

STANDARD: Man liest immer wieder von Lotto-Gewinnern, die ihren Gewinn in kürzester Zeit verprasst haben. Kommt das öfter vor?

Klingler: Ich erinnere mich an einen Steirer, der noch zu Schilling-Zeiten seinen Gewinn innerhalb eines Jahres durchbrachte. Der wollte das aber auch ganz bewusst so. Es gibt schon solche, ich sag mal, sogenannte Lebemänner.

STANDARD: Rational betrachtet ist es doch fast unmöglich, einen Sechser zu haben, oder?

Klingler: Und doch wird gewonnen. Das Ganze soll ja auch Spaß machen, und es geht nicht immer nur um den Sechser.

STANDARD: Manche Menschen bezeichnen Lotto als Deppensteuer …

Klingler: Ja, aber im Unterschied zur Einkommensteuer müssen Sie diese nicht zahlen, wenn Sie nicht wollen. Darüber hinaus unterstützen wir viele Institutionen.

STANDARD: Warum müssen Sie eigentlich anonym sein?

Klingler: Zum einen, damit mich die Nachbarn nicht erkennen, zum anderen dient es auch meiner eigenen Sicherheit. Manche glauben, dass ein Lotto-Gewinn noch immer im Koffer vorbeigebracht wird. (Michael Hausenblas, RONDO exklusiv, 12.6.2021)