Michael Häupl muss wissen, wie man eine Millionenstadt lenkt. Der Sozialdemokrat führte Wien ganze 23,5 Jahre lang als Bürgermeister und war in seinen Amtszeiten im steten Austausch mit anderen Stadtoberhäuptern. Städtediplomatie sei also natürlich nichts Neues, sagt Häupl, der auch Präsident des Österreichischen und Europäischen Städtebundes war. Ob es stimmt, dass in Städten wirklich die fortschrittlichere Politik gemacht?

STANDARD: Werden die Bürgermeister großer Metropolen wirklich immer mächtiger, oder erkennen sie einfach immer öfter, welch große Macht sie eigentlich besitzen?

Häupl: Gerade Bürgermeister sind ja die größten Pragmatiker unter den Politikern. Sie wissen ganz genau, was sie können und dürfen und was nicht. Diese Zusammenarbeit der größten europäischen Städte hat es aber schon lange gegeben – etwa die Konferenz Europäischer Regionen und Städte oder der lose Verbund der Eurocities, der dafür flexibler war. Das eine ist ein großes Schiff, und das andere ist ein kleines, sehr wendiges Boot. Aber die Zusammenarbeit war immer wichtig. Als ich Präsident des Europäischen Städtebunds war, hatten wir einen Schwerpunkt auf südosteuropäische Städte gesetzt, was Wien sehr guttat.

Wiens Altbürgermeister Michael Häupl (vorn) mit den damaligen Amtskollegen Wowereit (Berlin), Cosolini (Triest) und Ftácnik (Bratislava) (v. li.).
Foto: APA / Robert Jäger

STANDARD: Michael Bloomberg hat einmal gesagt: "Die Nationen reden, die Städte handeln." Hat er recht?

Häupl: Das ist auch ein guter Sager. Aber die Städte reden auch viel, das können Sie mir glauben (lacht). Das Schöne an der Kommunalpolitik ist: Was du am Vormittag entscheidest, musst du am Nachmittag im Wirtshaus rechtfertigen. Wenn du nichts machst, stehst du nicht erst bei der nächsten Wahl zur Diskussion, sondern noch am selben Tag.

STANDARD: Also ist die Stadtdemokratie immer ein Stück weit direkter?

Häupl: Ja, würde ich sagen. Wurst, ob das ein kleines Dorf oder eine Zwei-Millionen-Stadt wie Wien ist, die Grundorganisation ist die Gleiche. Wenn ich seinerzeit um 17 Uhr aus dem Rathaus gegangen bin, um endlich was zu essen, bin ich auf der Straße angesprochen worden. Aber wann triffst’ schon einen österreichischen Bundeskanzler?

STANDARD: Welchen Vorteil hat Städtediplomatie gegenüber herkömmlicher Diplomatie? Ist sie weniger starr als klassische Außenpolitik? Mehr Handschlagqualität?

Häupl: Das ist schon richtig. Wenn man sich immer ans spanische Hofzeremoniell hält, dann dauert das Ganze natürlich seine Zeit. Und wir können auf Bürgermeisterebene natürlich auch dann sprechen, wenn es auf nationaler oder internationaler Ebene nicht so toll funktioniert. Ich kann mich sehr gut an die Zeit erinnern, als der Eiserne Vorhang nur 60 Kilometer östlich von Wien war. Wir hatten mit Bürgermeistern von Budapest, Ljubljana, Zagreb und Brünn sehr gute Gespräche. Jetzt sage ich nicht, dass das eine Vorbereitung zum Fall des Eisernen Vorhangs war, aber wir hatten zumindest eine menschliche Brücke. Und nach dem Fall haben wir sehr viele praktische Unterstützungsprojekte gemacht. Da ist auf nationaler Ebene gar nichts gelaufen. Auch vor den Beitritten zur Union haben wir unsere Erfahrungen entsprechend weitergegeben in vielen Kursen.

STANDARD: Man hat oft das Gefühl, dass in Städten progressivere Politik gemacht wird. Ist es mit der urbanen Bevölkerung leichter – oder wird es von ihr umso mehr gefordert?

Häupl: Das hat schon was für sich. Man sieht es ja auch in Ungarn. Eine Reihe größerer Städte hat linksliberale Bürgermeister und keine Orbán-Leute. In der Türkei ist es ähnlich mit Ankara oder Istanbul. Wenn man so will, findet ein Anzeiger für politische Wechsel oder den Wechsel einer Stimmungslage schon in den Städten statt, ja.

STANDARD: Großstädte locken das Potenzial vom Land. Bereichern sich erfolgreiche Städte wie Wien gar auf Kosten der restlichen Nation?

Häupl: Das ist ja ein vollkommener Blödsinn. Alleine die Verteilung des Finanzausgleichs zeigt ja, was in Wien erwirtschaftet wird und was die Stadt bekommt. Wien ist mit Abstand der größte Nettozahler der Republik. Dass Wien so attraktiv und lebenswert war, war auch nicht immer so. Als ich als Student nach Wien kam, 1969, war die Stadt eine ganz andere als heute. Wir sind damals nach München gefahren, wenn wir was erleben wollten. Heute kommen die Münchner nach Wien. Aber zur Landflucht: Corona hat uns ja auch bewiesen, dass es auch in die andere Richtung geht. Wenn eine Stadt wirklich attraktiv sein will, ist sie zum Erfolg verdammt.

STANDARD: Es werden global gesehen immer noch mehr Leute in die Städte ziehen.

Häupl: Wir werden das alle noch erleben, dass weit mehr als die Hälfte der Menschen auf Erden in Städten leben werden. Im reicheren Teil der Welt sind es ohnehin schon zwei Drittel bis 70 Prozent. Das ist natürlich ein Thema. Diese Agglomeration der Bevölkerung zieht natürlich auch eine der Bildung und der Ökonomie nach sich. Und damit ist das natürlich auch ein Verteilungsproblem. Und deswegen muss man schon schauen, dass man nicht das ganze Land zersiedelt, sondern zu venünftigen Arbeitsteilungen kommt. Das wäre schon eine vernünftige Idee, aber wer zähmt schon eine kapitalistische Wirtschaft? (Fabian Sommavilla, 3.6.2021)