"Ich bin für die Quote, aber mit Sichtbarkeit ist das nicht erledigt. Die Sache ist teuflischer", sagt René Pollesch.

Foto: Thomas Aurin

Besucher des Burg- und des Akademietheaters kennen zahlreiche seiner Stücke: In Diskurskomödien wie Deponie Highfield oder Carol Reed erprobte Dramatiker und Regisseur René Pollesch die Theatertauglichkeit gesellschaftsverändernder Begriffe. Im Herbst übernimmt er die Intendanz der zuletzt krisengeschüttelten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer hat am Samstag Festwochen-Premiere (Theater an der Wien).

STANDARD: Sie proben "Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer". Die spontane Assoziation dazu ist Brecht: "Die Gewehre der Frau Carrar".

Pollesch: Das ist auch für uns die Assoziation. Der Abend setzt sich mit dem Produktionsprozess dieses Stückes auseinander, das einmal das meistgespielte von Brecht war, was man heute nicht denken würde. Die Gewehre der Frau Carrar hieß erst Generäle über Bilbao. Wir behaupten einfach, dass Hollywood 1938 eine Filmfassung vorhatte. Unser Set ist ein Filmstudio mit einem sogenannten Spinning Room, aus einem Musical, in dem Fred Astaire an der Decke tanzt. Wir beziehen uns auf den Spanischen Bürgerkrieg, von dem Brecht 1937 den Ausgang ja noch nicht kannte, und behaupten, dass Brechts Problem eine Nähe hat zu einer Entscheidung, die 1938 getroffen wurde: dass das Wrestling nicht mehr als Sportart galt, sondern als Show, als Fake, weil man herausfand, dass der Ausgang nicht offen war, sondern geschrieben. Da ziehen wir Parallelen zwischen Brechts Produktionsprozess und dem Wrestling.

STANDARD: Die 1930er-Jahre waren eine Blütezeit des Hollywood-Musicals. Kommt von da her Ihr Interesse an dem Begriff Tanzfilm?

Pollesch: "Lob des Tanzfilms" war einer der Titelvorschläge, die kursierten. Das Wort, habe ich recherchiert, gibt es nur ein Deutschland. Um dafür eine Entsprechung zu finden, kamen wir auf die Idee, mit Filmkränen zu arbeiten. Wir sind 14 Personen auf der Bühne. Ich fand immer diese Szene in der West Side Story toll mit dem Song Cool, die in einem Parkhaus stattfindet, wo die Kamera und der Schnitt auch tanzen. So etwas schwebt uns für Wien mit den Krankameras auch vor.

STANDARD: Kino hat in Ihren Inszenierungen immer wieder eine große Rolle gespielt. Was bedeutet Ihnen Hollywood im Speziellen?

Pollesch: Wir haben für die Proben auch Hollywood Babylon von Kenneth Anger gelesen, eine Art Skandalgeschichte der US-Filmindustrie. Das Buch ist von einem Camp-Humor geprägt. Anger erzählt unglaubliche Dramen, die sich in Hollywood abgespielt haben, man hat das Gefühl, dass diese Dramen viel mehr bedeuten als die Filme.

STANDARD: Wenn man Kenneth Angers Blick auf Hollywood auf Ihre Produktion übertragen würde, müsste es bei Kathrin Angerer zuerst einmal um ihre Beziehung zu Frank Castorf gehen. Die beiden waren ein bekanntes Theaterpaar. Beziehungen am Arbeitsplatz gelten heute oft als unzulässig.

Pollesch: Das mit Kathi und Castorf ist zu lange her, als dass das jetzt naheliegend gewesen wäre. Ich persönlich könnte so eine Paarbeziehung gar nicht durchspielen, weil ich die Besetzung unserer Stücke nicht allein mache. Ich würde das auch nicht durchbekommen bei den Beteiligten, und das ist auch ganz gut so. Meine privaten Beziehungen finden auch nicht im Theater statt.

STANDARD: Gibt es von Ihnen keine potenziellen Skandalgeschichten?

Pollesch: Eine junge Schauspielerin hat mir erzählt, sie hätte in Basel gehört, ich sei von Kokain runter. Seit 20 Jahren erzählen ein paar Leute, ich würde koksen. Vor 15 Jahren habe ich in einem Interview dann einmal richtiggestellt: Ich hab noch nie gekokst. Als ich das dann gelesen habe, fand ich das sehr spießig. Warum nicht den Tratsch über mich anerkennen, wenn die Wahrheit so öde und glanzlos ist? Ich fand das langweilig, so auf der Wahrheit zu beharren. Lieber überrede ich mich selbst, das Koksen als die eigentliche Wahrheit über mich anzuerkennen.

STANDARD: Derzeit wird wieder viel über das Theater als Betrieb gesprochen, einen Ort, an dem missbräuchliches Verhalten lange gang und gäbe war. Wie kommt man da zu belastbaren Fakten?

Pollesch: Ich erziehe mich durch die Theaterarbeit zum Materialisten. Wir haben eine Szene in Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer, wo sich alle gegenseitig geraffte Zusammenfassungen von Leben anhängen. Gegen die literarische Weitschweifigkeit setzen wir eine krass verzerrte Zusammenfassung. Wir versuchen, diese Rede, die über einen existiert, die man auch gar nicht mitbekommt, anzuerkennen. Bei Kenneth Anger heißt es einmal: James Murray, aus dem Hudson gefischt. Das ist ein Satz, der hat einen Glanz. Es gibt einen Text von Michel Foucault, Das Leben der infamen Menschen, das sind Menschen, von denen wir nichts wissen außer ein, zwei Sätze in einem alten Internierungsregister. Diese Nähe von Foucault und Kenneth Anger hat uns interessiert, auch gegen Brecht, der mit einer aristotelischen Einfühlungsdramatik an den noch nicht beendeten Bürgerkrieg herangeht.

STANDARD: Ein Schlüsselbegriff für Ihre Arbeiten ist Repräsentation. Auch in der Identitätspolitik geht es um Repräsentation. Was verstehen Sie darunter?

Pollesch: Vor zwei Jahren haben wir Black Maria am Deutschen Theater gemacht, da war so der Anfang von #MeToo. Die harte feministische Theorie dahinter erzählt von der Unmarkiertheit des weißen männlichen Heterosexuellen, der immer die Perspektive verheimlicht. Ich bin total für die Quote, aber mit Sichtbarkeit ist das nicht erledigt. Das Ganze ist teuflischer. Das Privileg ist die Unsichtbarkeit. Ein Mensch auf dem Theater heißt immer noch eine weiße, männliche Hete. Auf dem leeren Blatt Papier steht immer schon etwas geschrieben. Da geht es immer um den, der unmarkiert, unsichtbar bleiben will.

STANDARD: Sie treten demnächst als Intendant der Volksbühne in Berlin an, de facto werden Sie Nachfolger Castorfs.

Pollesch: Unsere Bewerbung zielte darauf, dass wir unsere Praxis, mit der wir seit 20 Jahren beschäftigt sind, auf ein ganzes Haus übertragen. Martin Wuttke, Kathrin Angerer, Inga Busch, das sind bestimmte Träger dieser Praxis. Wir beziehen uns auch auf einen Vorschlag von Brecht: Autorinnen und Autoren müssen sich mit Schauspielerinnen und Schauspielern zusammentun, den Regisseur erwähnt Brecht da nicht mehr. Die Volksbühne war immer ein Schauspielerinnentheater, das Ensemble castet die Regisseurinnen. Und unser festes Ensemble kam nicht zustande, weil ein Intendant sie mit seinem Geschmack geadelt hat.

STANDARD: Das wäre also eine Intendanz, in der Missbrauch und sexualisierte Autorität strukturell ausgeschlossen sind?

Pollesch: Jedenfalls haben wir keine Autorinnen angesprochen, die Schauspielerinnen dazu anhalten werden, ihre Visionen abzulatschen. Wir bauen auf die Autonomie der Spielerinnen. Die waren immer schon sehr emanzipiert an diesem Haus. (Bert Rebhandl, 2.6.2021)