Die Bajcsy-Zsilinszky utca ist eine Gasse im ruhigen Südwesten von Sopron. Dort geht es bald schon hinein in die Föhrenwälder des Nobelviertels Lövérek und weiter hinauf auf den Brennberg. Beherrscht wird diese Gasse von einem imposanten Gebäude in einem weitläufigen Garten. Einst Heimstätte der Oberrealschule der königlich ungarischen Landwehr. Seit etwas mehr als hundert Jahren aber die der Universität Sopron, die sich nach Eingliederung der kleinerer Hochschulen in Győr, Mosonmagyaróvár und Szombathely nun Westungarische Universität nennt.

Lehrer und Studenten im Jahr 1958: Gruppenfoto vor dem notdürftig gezimmerten Gebäude der Soproner Forstuniversität an der kanadischen Pazifikküste, wo die Ungarn bald das Forstwesen nachhaltig beeinflussten.
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Die Korridore der einstigen Militärschule sind jetzt, im Mai, weitgehend menschenleer. Corona-bedingt hält Ferenec Lakatos seine forstwissenschaftlichen Vorlesungen per Videokonferenz. Und auf diese Weise durfte auch Der STANDARD anklopfen beim Vizerektor, um sich ein wenig erzählen zu lassen von der Geschichte dieser Hochschule, die ums Haar der Ödenburger Volksabstimmung im Dezember 1921 die des Burgenlandes hätte werden können.

Es ist eine wilde und wundersame Geschichte. Die Universität von Sopron ist, getrieben von den Verwerfungen der Weltgeschichte, nämlich ein ziemlicher Wanderzirkus. Ins Leben gerufen wurde sie in Schemnitz, dem oberungarischen Selmec, dem heute slowakischen Banská Štiavnica, inmitten des einst ungarischen Erzgebirges. Dort gab es reiche Silber- und Goldvorkommen. Und entsprechend weit zurückreichende Anstrengungen, die Schätze zu heben, die Kaiser, Könige und Sultane dann in den Stand setzten, jene Kriege zu führen, für die diese Schätze den Grund lieferten.

Drucktopf der Nationen

Kaiser Karl VI. gründete 1735 hier eine Bergschule. Maria Theresia, seine Tochter, wertete in den 1760er-Jahren diese Schule zur Akademie auf. Gemeinsam mit der im sächsischen Freiberg ist Schemnitz die älteste Montanakademie der Welt. Und zu der gesellte sich 1808 eine Fakultät für Forstwirtschaft. Auch die war eng verschränkt mit einer Tradition aus dem sächsisch-böhmischen Erzgebirge, wo der Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz einst den Begriff der Nachhaltigkeit in den Wald gepflanzt. Lakatos sagt: "Wir stehen immer noch in der deutschen Tradition der Forstwissenschaft."

Der Soproner Vizerektor Ferenc Lakatos auf Besuch an der University of British Columbia in Vancouver. Das "Sopron Gate" erinnert mit traditioneller siebenbürgischer Handwerkskunst an die kanadische Gastfreundschaft für die Flüchtlinge.
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Befeuert von Napoleon, erhitzte das frühe 19. Jahrhundert ganz Europa, das sich plötzlich zum Drucktopf der Nationen wandelte. 1848 flog der erstmals in die Luft. Mit den Liedern des als Alexander Petroviæ geborenen Sándor Petőfi auf den Lippen zogen die Ungarn rebellierend nach Wien. Die Akademie änderte ihre Unterrichtssprache auf Ungarisch und vertrieb so ihre deutschsprachigen Lehrer und Studenten. Den Erzherzog Johann freute es. Die von ihm initiierte Montanlehranstalt im steirischen Vordernberg übersiedelte 1849 nach Leoben. Als jene montanistische Akademie, die sie bis heute ist. Ferenc Lakatos lacht. Aber ja, es stimme schon: "Leoben ist gewissermaßen eine Schwester von Sopron."

Denn das nationale Großreinemachen ging ja weiter. 1919 wurde das ungarische Felvidék, das Oberland, tschechoslowakisch. Die Berg- und Forstakademie packte zusammen und übersiedelte ins heutige Ungarn. Erst nach Budapest. 1919 nach Sopron, wo der Bürgermeister sich darum bemühte und der Braunkohleabbau am Brennberg einen sachlichen Grund lieferte. Nach dem Ende des Brennberger Bergbaus 1953 trennten sich allmählich die Wege von Berg und Wald. Die Montanisten übersiedelten nach Miskolc. Die Förster hielten die Traditionen aus den slowakischen Bergen hoch.

Die Soproner Flüchtlinge studierten in Vancouver mit dem ungarischen Curriculum fertig.
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Zur Tradition gehörte, wie an anderen europäischen Universitäten auch, der handfeste Patriotismus. Den österreichischen Ambitionen, das neugewonnene Burgenland mit seiner städtischen Perle – Ödenburg, also Sopron – zu schmücken, trat so mancher Schemnitzer mit der Waffe in der Hand entgegen. Der beiden im Kampf um Ágfalva/Agendorf 1921 Gefallenen gedenkt die Universität jährlich. Bis heute. Die Studenten tragen die alten Schemnitzer Uniformen. "Man hält", sagt der Vizerektor, "schon sehr auf Tradition."

Rebellische Studenten

Rebellisch waren die Soproner Studenten auch 1956. Die Ungarn revoltierten gegen die sowjetische Besatzung. Medizinischer und militärischer Nachschub aus dem politischen Westen wurden über Sopron zu den Kämpfern in Budapest geliefert. Der Kampf brach Anfang November zusammen, die sowjetischen Panzer rückten westwärts. Der Plan, sich ihnen bei Kopháza entgegenzustellen, wurde zum Glück fallengelassen. Aber die halbe Universität, mehr als 500 Menschen, flohen Hals über Kopf nach Österreich. "Viele waren sich sicher, man werde bald wieder heimfahren können", erzählt Lakatos. "Man glaubte fest daran, der Westen werde zu Hilfe eilen."

Das tat er – selber verstrickt in die von Briten und Franzosen vom Zaun gebrochenen Suez-Krise – nicht. Einige kehrten dennoch zurück. Ein paar blieben in Österreich. Die Förster aber hatten einen anderen Plan. Ihr Dekan, Kálmán Roller hieß er, schrieb Briefe an zwanzig westliche Regierungen mit der Bitte, sie nicht bloß als einzelne Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Sondern als Universität. Die Studenten stünden mitten im Studium. Sie wollten in ihrer Sprache und nach ihrem Curriculum weitertun.

Es war – Kanada erkannte das – nicht nur eine Bitte. Sondern ein Angebot. Die University of British Columbia entschloss sich, die 300 Flüchtlinge – Studenten, Professoren, Angehörige – als "Sopron Division" gleichsam zu adoptieren. Fünf Jahre lang wurde so die 1808 im oberungarischen Selmec gegründete Forstakademie an die nordamerikanische Pazifikküste verpflanzt.

"True Dauerwald"

1957 richteten die Ungarn sich ein. Etwas abgeschieden. Unter sich bleibend. Heute würde man sagen: eine Parallelgesellschaft bildend. Aber das änderte sich bald. Márta Mihály, eine damalige Studentin, erinnert sich daran, "dass wir sechs bis acht Stunden am Tag Englisch lernten". Und nebenher auch die Faszination des Neuen studierten: den unberührten pazifischen Regenwald mit seinen Mammutbäumen, "a true Dauerwald". Dauerwald – das ist ein forstwissenschaftlicher Begriff aus der deutschen Tradition forstlicher Nachhaltigkeit.

So kamen sie zu einem Abschluss der traditionsreichen Forstuni in Sopron.
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Die Soproner brachten nicht nur diese Ideen der nachhaltigen Waldnutzung in die endlosen Wälder des diesbezüglich noch recht wilden kanadischen Westens. "Unsere Ausbildung ist bis heute sehr umfassend auch in technischer, biologischer, chemischer und ökonomischer Hinsicht", sagt Vizerektor Lakatos. Das ist das Erbe und die jahrhundertelange Nähe zur Montanistik. "Wir haben auch Diplome für kleinere Hoch- und Tiefbauarbeiten, dürfen so auch Waldstraßen bauen, Waldhütten und Forsthäuser."

2019 starb der letzte Professor der kanadischen Soproner, László Adamovich, Sohn eines Esterházy-Försters. Er wäre heuer im März 100 geworden. Im Mai vor 60 Jahren promovierte der letzte ungarische Jahrgang in Vancouver. Die von der UBC, der University of British Columbia, Adoptierten haben sich, bald auch schon als Kanadier, umgehend an die forstliche Arbeit gemacht.

"Hungarian Mafia"

2000 Kilometer weiter südlich, in Hollywood, entstand die schöne Redefigur von der Drehtür, in die ein Ungar hinter dir hineingeht, aber vor dir wieder herauskommt. Antal Kozak, Professor für Ressourcenmanagement, blickt auf der UBC-Homepage nicht minder augenzwinkernd auf eine "Hungarian Mafia" zurück, die da "mit ungemeinem Fleiß, Zusammenhalt und neuen Ideen" durch diese Drehtür in die pazifischen Wälder trat.

"Wenn wir die Änderungen in den Forstwirtschaftspraktiken zwischen den frühen 60ern bis jetzt anschauen, speziell in British Columbia, bemerken wir eine signifikante Veränderung zum Besseren." Ja, natürlich: "Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass etwa hundert ungarische Förster eine wichtige Rolle bei diesen Veränderungen gespielt haben." Aber: "Wir möchten schon glauben, dass dies der Fall war."

Geoffrey Clement Andrew, damals Chef der Unibibliothek in Vancouver und später Präsident der Vereinigung kanadischer Universitäten und Colleges, glaubte das jedenfalls stets mit kalkulierender Überzeugung: "Ich habe die Soproner immer als eine der profitabelsten Immigrationsdividenden gesehen, die dieses Land je gehabt hat." (Wolfgang Weisgram, 4.6.2021)