Lange schien SPÖ-Chefin Rendi-Wagner keine echte Herausforderin für Kanzler Kurz zu sein. Doch der Trend macht ihr Hoffnung.

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Schwarzes Elternhaus mit Mittelstandsgewerbe in einer Kleinstadt: ÖVP-Nähe sei ihr in förmlich die Wiege gelegt worden, erzählt eine Unternehmerin aus der Steiermark. Entsprechend begeistert habe sie Sebastian Kurz’ Aufstieg beklatscht – um nun umso herber enttäuscht zu sein. Das Zementieren der Macht, das Zurechtbiegen der Gesetze sei ihr ebenso zuwider wie der Buberlpartie-Stil in den türkisen Chatprotokollen: "Von denen will ich nicht vertreten werden."

Eine Einzelstimme, gewiss – und doch nicht nebensächlich. Denn was die Ex-Anhängerin des Kanzlers offenbart, spiegelt sich in Umfragen wider. Vor einem Jahr noch war die ÖVP mit über 40 Prozent mehr als doppelt so stark wie die zweitplatzierte SPÖ. Seither ist der Zuspruch stetig gesunken – so massiv, dass die türkise Vormachtstellung nun erstmals seit Kurz' Amtsantritt nicht mehr unantastbar erscheint.

Plötzlich fast gleichauf

Das legt zumindest eine Umfrage der Institute Market und Lazarsfeld nahe. Demnach würden bei Neuwahlen am kommenden Sonntag 29 Prozent der ÖVP ihre Stimme geben; bei der letzten echten Nationalratswahl im September 2019 waren es 37,5 Prozent. Die SPÖ käme mit 28 statt der 21 Prozent vom vorletzten Jahr beinahe aufs selbe Niveau, wobei die Schwankungsbreite angesichts von 1.000 Befragten bei plus/minus 3,19 Prozentpunkten liegt.

Gründe mussten die Befragten keine angeben, doch einige liegen auf der Hand. Von der Hausdurchsuchung beim Finanzminister in der Casinos-Affäre bis zur drohenden Anklage des Kanzlers wegen Falschaussage beim U-Ausschuss hätten jede Menge Kalamitäten den Vorsprung schmelzen lassen, interpretiert Market-Leiter David Pfarrhofer: "Vor einem Jahr war die ÖVP in einer gewaltigen Hochphase, jetzt steckt sie in einem Formtief."

Allerdings ist die aktuelle Umfrage bisher die einzige, die Türkis und Rot so knapp beisammen sieht. Erhebungen anderer Institute im Mai kamen auf einen Abstand von acht bis elf Prozentpunkten, bei 33 bis 34 Prozent für die ÖVP. Auch Market attestierte in der Vorwoche noch eine eindeutige türkise Führung. Mit 31 zu 26 fiel der Vorsprung aber schon da geringer aus als bei der Konkurrenz.

Die Illusion der Zahlen

Woher die Diskrepanz? Dazu muss man wissen: Die Ergebnisse bilden nicht allein jene Befragten ab, die eine eindeutige Antwort gegeben haben. Nach bestimmten Verfahren versuchen die Meinungsforscher darauf zu schließen, welche Partei wie viele Stimmern aus dem Pool der Unentschlossenen erwarten darf. Wie diese "Hochschätzung" vorgenommen werde, sagt der Wahlforscher Peter Filzmaier, mache einen Unterschied.

Prinzipiell hält der Politologe zu jeder Sonntagsfrage einen Beipacktext für angebracht. Selbst bei bestmöglicher Durchführung sei es eine Illusion, ein künftiges Verhalten bei derzeit noch unbekannten Rahmenbedingungen voraussagen zu können: Niemand weiß, wann Wahltag ist, was bis dahin alles passiert, welche Parteien antreten werden. Da mache es keinen Sinn, sich an konkreten Zahlen festzuklammern.

Was sich aus der aktuellen wie auch den anderen Umfragen herauslesen lasse, sei aber ein Trend: Seit einem Dreivierteljahr habe die ÖVP ihren Abstieg nicht stoppen können, wovon zuallererst offenbar die FPÖ – laut Market bei 20 Prozent – profitiert. Nicht anders ist die Tendenz zum Wohlergehen der SPÖ beim grünen Koalitionspartner, der demnach mit zehn Prozent hinter die Neos (elf Prozent) zurückgefallen ist.

Trend spricht gegen Neuwahlen

Daraus zu schließen, dass das Ende der türkis-grünen Koalition nach der Wahl mangels Mehrheit besiegelt sein muss, hält Filzmaier – siehe oben – für voreilig. Abseits von Ausnahmesituationen wie Ibiza sei diese Konstellation allerdings generell keine, die sich in Österreich immer spielend ausgehen werde.

Ohnehin sprechen die Umfragen aber dafür, dass sich diese Frage noch nicht allzu bald stellen wird. Der Abwärtstrend von ÖVP und Grünen, sagt Filzmaier, "macht Neuwahlen unwahrscheinlich". (Gerald John, 1.6.2021)