Kurz nach dem ersten Rennen ging auch schon das zweite los. Der "Block des Wandels", der nach zwölf Jahren durchgängiger Regierungszeit Benjamin Netanjahus nun dessen Ablöse anstrebt, hatte Mittwochabend knapp vor Fristablauf die nötigen Unterschriften beim Präsidenten eingereicht. Damit waren fünfte Neuwahlen vorerst abgewendet.

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Am späten Mittwochabend konnte Oppositionschef Yair Lapid (Bild) einen wichtigen Etappensieg feiern: Die Allianz gegen Benjamin Netanjahu steht – doch wird sie auch in der Knesset die Mehrheit erhalten?
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Am Morgen danach begann der nächste Wettlauf gegen die Zeit. Oppositionsführer Yair Lapid setzte alles daran, so bald wie möglich das Parlament zu einer Vertrauensabstimmung zusammenzutrommeln. Dieses Votum ist notwendig, um die Regierung zu vereidigen.

Je später es abgehalten wird, desto länger bleibt Netanjahu im Amt. Und umso größer ist aus Lapids Sicht die Gefahr, dass der Langzeitpremier noch einen Abtrünnigen ausfindig macht. Netanjahu und seine Verbündeten üben seit Tagen großen Druck auf alle Rechtsgesinnten im Anti-Netanjahu-Lager aus, damit sie "nach Hause zurückkehren": Sie sollen ins Lager des Langzeitpremiers überlaufen, um ihm eine weitere Amtszeit zu sichern.

Einer schien bereits am Mittwoch schwach zu werden. Nir Orbach von der stramm rechten Jamina unter Naftali Bennett deutete an, der neuen Koalition keine Stimme zu geben. Die Regierung braucht aber jeden einzelnen ihrer Parlamentarier, um das Vertrauensvotum zu überstehen. Sie verfügt nur über 61 von 120 Sitzen im Parlament. Fällt nur einer aus ihren Reihen um, dann fällt damit die ganze Koalition – und das Land steuert auf Neuwahlen zu.

Knapper geht’s nicht

Eine kritische Rolle spielt dabei Parlamentspräsident Yariv Levin. Der Likud-Politiker gilt als treuer Netanjahu-Mann. Zugleich ist er Hüter der Tagesordnung der Knesset. Er kann sich weigern, Sondersitzungen einzuberufen oder bestimmte Punkte auf die Agenda zu setzen – und so kann er auch das Vertrauensvotum hinauszögern. Lapid und seine sieben Partner im Block des Wandels setzten sich deshalb für die Ablöse Levins ein. Ein Abgeordneter aus Lapids Zukunftspartei sollte seinen Platz übernehmen – und die Vertrauensabstimmung schon kommenden Montag (7. Juni) auf die Tagesordnung setzen. Die für die Ablöse nötigen Unterschriften hatten die Fraktionen bereits am Donnerstagmorgen gesammelt. Doch dann zog Nir Orbach seine Stimme zurück. Später gab die Vereinigte Arabische Liste bekannt, den Vorstoß zu unterstützen.

Um sich all das zu ersparen, hatte Lapid es eigentlich darauf angelegt, die Koalitionsverhandlungen schon Mittwochmittag abzuschließen. Da war nämlich gerade eine Parlamentssitzung im Gange, die der Wahl des neuen Staatspräsidenten Yitzhak Herzog diente. Herzog gewann mit überragender Mehrheit gegen Miriam Peretz. Doch das Plenum endete, der neue Präsident wurde gefeiert – und die Koalitionsverhandler waren zerstrittener als zuvor. Jamina-Vertreterin Ayelet Shaked hatte neue Forderungen aufgestellt, drohte mit Abbruch der Gespräche. Auch die arabische Kleinpartei Raam machte sich rar.

Häme und Hass

Es dauerte zehn weitere Stunden, bis diese Hürden überwunden und die Unterschriften aller acht Partner gesammelt waren. Ein Foto, auf dem Raam-Chef Mansur Abbas als Vertreter einer israelisch-arabischen Partei zusammen mit dem zionistischen Rechts-außen Naftali Bennett posiert, ging in sozialen Medien "viral". Vor allem Rechtsextreme teilten das Bild, gepaart mit Schmähtexten gegen beide.

Morddrohungen häuften sich in den vergangenen Tagen, mehrere Politiker des Blocks des Wandels sind mittlerweile auf polizeilichen Begleitschutz angewiesen. Nach der Koalitionseinigung wurde Bennett, der nun Netanjahu als Premierminister ablösen soll, zudem unter den Schutz des Inlandgeheimdienstes gestellt. Diese besondere Bewachung wird sonst nur amtierenden Regierungschefs zuteil.

Heftige Drohungen

Je mehr Zeit verstreicht, desto größer ist die Angst, dass den Gewaltandrohungen Taten folgen. Die neue Koalition befürchtet auch, dass äußere Ereignisse das Blatt wenden könnten. Das hält auch Politologe Yonatan Freeman von der Hebräischen Universität in Jerusalem für möglich. "In diesem Land kann schon eine Stunde eine Menge verändern", sagt er – geschweige denn mehrere Tage. Sicher sei nur eines: "Nichts ist sicher." (Maria Sterkl aus Jerusalem, 3.6.2021)