Tagelöhner in Indien, auch sie trifft die Pandemie hart.

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Auf den globalen Arbeitsmärkten ereignet sich eine Katastrophe: Im laufenden Jahr werden insgesamt 100 Millionen Vollzeitarbeitsplätze durch die Corona-Krise vernichtet. Und im kommenden Jahr droht ein weiterer Kahlschlag, wenn auch nicht mehr ganz so verheerend wie 2021: Im zweiten Jahr nach Beginn der Corona-Krise gehen noch einmal 26 Millionen Vollzeitjobs verloren. So jedenfalls sehen die düsteren Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation aus, die Generaldirektor Guy Ryder am Mittwoch in Genf vorstellte. Die wirtschaftlichen "Effekte der Pandemie könnten noch Jahre mit uns sein", warnte Ryder.

Massiver Jobabbau

Der ILO-Chef prognostizierte aufgrund des neuen Trendberichts seiner internationalen Organisation, dass 2022 rund 205 Millionen Menschen von Arbeitslosigkeit betroffen sein werden. Im letzten Jahr vor der Corona-Krise, 2019, waren laut den ILO-Statistiken global 187 Millionen Frauen und Männer ohne Stelle. Um die Ausbreitung der Krankheit Covid-19 zu bremsen, verhängten die Länder Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen und Grenzschließungen. Das führte zu Nachfrage- und Produktionsausfällen – und einem massiven Abbau von Jobs und Kürzungen der Arbeitszeit.

Die Folgen der Beschäftigungskrise: ein starker Einkommensverlust und steigende Armut. Davon werden besonders die Menschen in den ohnehin einkommensschwachen Entwicklungsländern heimgesucht.

Karges Leben

Verglichen mit 2019, so heißt es in dem ILO-Bericht, gelten in diesem Jahr zusätzlich 108 Millionen Arbeiter als "arm" oder "extrem arm". Sie und ihre Familien fristen ein Dasein mit weniger als 3,20 US-Dollar (2,63 Euro) am Tag. "Die Armutszahlen sind absolut dramatisch", urteilte ILO-Chef Ryder, der in der britischen Gewerkschaftsbewegung seine Laufbahn begonnen hatte.

Die Corona-Pandemie mache jahrelange Fortschritte im Kampf gegen die Armut zunichte. Damit, so unterstrich Ryder, rückt auch ein großes Ziel der Vereinten Nationen in weite Ferne. Die UN wollen weltweit alle Formen der Armut bis 2030 ausmerzen.

Viele Staaten des globalen Südens geraten durch die Corona-Krise in einen Teufelskreis der Armut, aus dem sie kaum noch ausbrechen können: Regierungen in Afrika, Asien oder Lateinamerika verfügen nicht über die Finanzmittel, ihre Bevölkerungen schnell gegen Covid-19 impfen und somit zur ökonomischen Normalität zurückkehren zu können. Zudem fehlt ihnen die Fiskalkraft, um ihre Volkswirtschaften zu stützen und anzukurbeln.

Schlechtere Jobs

Falls die Entwicklungsländer es doch schaffen, auf den Wachstumspfad zurückzukehren, warten auf die Arbeitnehmer nicht mehr die gleichen Stellen wie zuvor. ILO-Chef Ryder fürchtet, dass sich die "Qualität" der Jobs verschlechtern wird. Anders ausgedrückt: weniger Lohn, längere Arbeitszeiten, miesere Jobbedingungen.

Die ILO, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf, kalkulierte den Wegfall von Arbeitsstunden infolge der Corona-Krise und rechnet die Einbußen in Jobverluste um. Dabei legt die ILO eine 48-Stunden-Woche zugrunde.

Grundsätzlich geht die ILO in der zweiten Jahreshälfte von einer Erholung an den Arbeitsmärkten aus. Aber die mit einem Konjunkturaufschwung verbundene Rückkehr an die alten Arbeitsplätze und die Schaffung neuer Stellen reichten nicht, um 2022 den Mangel an bezahlter Arbeit auszugleichen. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 4.6.2021)