Christl hat Erfahrungen mit Catcalling gemacht, die sie in ihrer aktuellen Single "Object of Desire" verarbeitet.

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Von "Echt geiler Arsch, aber keine Titten" bis zu "Willst du ein Bier? Ich hab auch einen Schwanz für dich!": Die Initiative Catcalls of Vienna sammelt Sprüche, die Frauen im öffentlichen Raum an den Kopf geworfen werden, und schreibt sie an der nämlichen Stelle mit Kreide auf den Boden, um Sichtbarkeit für das Phänomen Catcalling zu schaffen. So lautet der Begriff dafür, wenn einem Obszönitäten oder Aufforderungen zu sexuellen Handlungen auf der Straße hinterhergerufen werden.

In Österreich ist diese Form der verbalen sexuellen Belästigung nicht strafbar, während das zum Beispiel in Frankreich bereits der Fall ist. Auch die 20-jährige, in Wien lebende Musikerin und bildende Künstlerin Christl hat Erfahrungen mit Catcalling gemacht, die sie in ihrer aktuellen Single Object of Desire verarbeitet. Kürzlich tat sie sich mit Catcalls of Vienna zusammen, um gemeinsam eine Kunstaktion im öffentlichen Raum zu verwirklichen. Im STANDARD-Gespräch erklärt sie, wie Pop und Aktivismus zusammengehen.

STANDARD: Warum haben Sie in Form einer Kunstaktion im öffentlichen Raum Catcalling thematisiert?

Christl: Im Vorfeld der Aktion habe ich einen Aufruf auf Instagram gestartet, dass mir betroffene Personen, denen so etwas passiert ist, schreiben können. Es gab so viele Rückmeldungen, so viele arge Geschichten. Mir wurde bewusst, wie alltäglich Catcalling ist, deswegen war es mir wichtig, die Aktion zu nutzen, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Jede als Frau gelesene Person hat diese Erfahrungen gemacht.

STANDARD: Catcalling gehört zu den "weniger schlimmen" Formen sexueller Belästigung. Was hält man Menschen entgegen, die Catcalling mit Sätzen wie "Es gibt Wichtigeres" oder gar "Nimm’s als Kompliment" relativieren?

Christl: Es ist eine Grenzüberschreitung, die nicht in unseren Alltag gehört und die man nicht mit einem Kompliment vergleichen kann. Sicher gibt es "Schlimmeres", aber wenn wir Phänomene wie Catcalling als "normal" akzeptieren, schaukelt sich das immer weiter hoch. Es ist kein Wunder, wenn in einer Gesellschaft, in der wir solche Machtdynamiken im Alltag tolerieren, in weiterer Folge auch Femizide passieren. Männer müssen ihre Männlichkeit kritisch reflektieren und sich bewusst werden, was es wirklich für betroffene Personen bedeutet, so behandelt zu werden.

STANDARD: Um die Objektifizierung von Frauen geht es auch in Ihrem Song "Object of Desire". Wieso haben Sie sich entschieden, Ihren gesellschaftspolitischen Aktivismus auch in Liedform zu bringen?

Christl: Es war umgekehrt. Zuerst war der Song da, in dem ich meine persönlichen Erfahrungen und Gefühle verarbeiten wollte, und erst im Prozess der Veröffentlichung des Songs ist der aktivistische Aspekt dazugekommen. Mir war es nicht genug, einfach "nur" einen Song zu releasen – ich wollte die Möglichkeit zum Austausch schaffen.

CHRISTL

STANDARD: Wir beobachten gerade an den Charts, dass erfolgreiche Popacts immer diverser und aktivistischer werden. Wie erklären Sie sich den Einzug des Aktivismus in den Mainstream?

Christl: Ich denke, dass es auf Tiktok oder Instagram sehr viel mehr Raum für Individualität und dafür, diese Themen zu besprechen, gibt. Leitfiguren wie Lizzo sind wahnsinnig wichtig für die Sichtbarkeit von Personen, die zum Beispiel dick sind – wir können diese Dinge erst normalisieren, wenn sie auch im Mainstream stattfinden.

STANDARD: Sind diese Identitätsfragen – Sie haben Body-Politics angesprochen –, die den Mainstream erobern, nicht auch nur Marketingstrategie oder Trend?

Christl: Hinter allem stehen wirtschaftliche Interessen, klar. Ich würde es trotzdem nicht als Trend bezeichnen wollen. Stattdessen sollte man sich überlegen, warum solche Personen bis jetzt nicht im Mainstream vorhanden waren. Dass Billie Eilish gerne "baggy clothes" anzieht, kommt ja nicht von irgendwoher. Es gibt junge Menschen, die das seit Jahren tun. Deswegen geht so etwas dann auch durch die Decke und sorgt weltweit für Interesse, weil es endlich eine Person im Rampenlicht gibt, von der sich diese jungen Menschen repräsentiert fühlen.

STANDARD: Welche Themen werden im Mainstream zu wenig verhandelt?

Christl: Für mich persönlich fehlt in der ganzen Body-Positivity-Bewegung, die ja behauptet "Wir müssen uns alle selbst lieben und megageil finden", ein neutraler Zugang: den eigenen Körper also überhaupt erst mal so zu sehen, wie er ist. Body-Positivity wird oftmals viel zu sehr romantisiert – sich selbst zu akzeptieren ist harte Arbeit. Ziel wäre es eher, ein realistisches Bodyimage zu etablieren, mit allen Dehnungsstreifen, Cellulite und so weiter.

Christl im StandART-Videotalk
DER STANDARD

STANDARD: Musikalischen Aktivismus gibt es auch aus der anderen Ecke, wenn wir zum Beispiel an Xavier Naidoo denken, der in seinem aktuellen Video einen Anschlag auf ein Bremer Impfzentrum inszeniert. Lässt sich eine gesellschaftliche Spaltung auch in der Popmusik ablesen?

Christl: Kunst hat meiner Meinung nach schon die Aufgabe, die Gesellschaft zu spiegeln. Und in unserer Gesellschaft gibt es Menschen, die so denken. Ich will das nicht unterstützen, aber es existiert halt auch.

STANDARD: Sie stehen ganz am Anfang Ihrer Karriere. Ihre Songs, Stimme und Präsenz sind toll. Aber wir wissen beide, dass das nicht reicht. Wie werden Sie es anlegen? Versuchen, auf Tiktok viral zu gehen?

Christl: Ich glaube nicht, dass es ein Ziel sein kann, Tiktok-famous zu werden. Aber wenn man als junge Person Kunst machen will, muss man schon groß denken. Ich habe ein inneres Vertrauen, dass es funktionieren wird, auch wenn nicht sofort der virale Hit da ist. Solange ich die Kunst umsetzen kann, die ich wirklich fühle, habe ich mein persönliches Ziel schon erreicht. (INTERVIEW: Amira Ben Saoud, 4.6.2021)