Zwischen Jänner und März 2020 reisten etwa 190.000 Menschen aus China allein nach Großbritannien ein, viele von ihnen aus Hochrisikogebieten. Die erste offizielle Corona-Tote in Brasilien war eine Hausangestellte, deren Arbeitgeberin darauf bestanden hatte, dass sie das Haus putzen müsse. Die Dame war gerade aus dem Italienurlaub mit dem Virus zurückgekommen, erzählte ihrer Angestellten aber nichts von ihrer Erkrankung. Die zehn reichsten Länder der Erde haben sich gerade 75 Prozent der Impfstoffe gesichert. Die Staaten des globalen Südens gehen weitgehend leer aus. Das ist nicht nur – gelinde gesagt – moralisch höchst fragwürdig. Es ist wahrscheinlich auch unklug und ein Eigentor. Denn eine globale Pandemie kann nur weltweit und gemeinsam besiegt werden.

Der Herausgeber D. F. Bertz hat eine Menge an Autorinnen und Autoren in einem mehr als 700 Seiten dicken Buch versammelt, die unterschiedliche Aspekte der Covid-19-Pandemie beleuchten. Der Band gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten Block werden die unterschiedlichen staatlichen Maßnahmen gegen Corona behandelt. Ein zweiter Themenkreis widmet sich unter dem Titel "Corona-Kapitalismus & Sozialepidemiologie" den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie. Der dritte Block wirft einen globalen bzw. kosmopolitischen Blick auf die Auswirkungen der Seuche. Der letzte Teil schließlich entwirft Szenarien für die Welt "nach Corona".

Selbstreflexiv, kontrovers

Alle Autorinnen und Autoren können dem linken oder linksliberalen Lager zugeordnet werden. Sie eint die Kritik am globalen Kapitalismus, dem die (Mit-)Verantwortung an der Pandemie angelastet wird. Regierungen werden für ihren "Corona-Nationalismus", für falsche Maßnahmen oder doppelte Standards kritisiert. Eine Vielfalt von Aspekten wird thematisiert, von den Kriegsmetaphern in der Berichterstattung über Verschwörungstheorien, soziale Ungleichheiten, der Asylpolitik und den Pharmakonzernen bis zur Zunahme an häuslicher Gewalt an Frauen im Zuge der Pandemie. Fast alle Beiträge sind spannend zu lesen, gut recherchiert, selbstreflexiv und manchmal auch kontrovers.

Seit Beginn der Pandemie ist viel Haltloses über sie geschrieben worden. Der italienische Philosoph und Politiker Massimo Cacciari etwa bot den entbehrlichen Kommentar: "Ich verachte die dummen hygienischen Vorstellungen der Bourgeoisie." Abseits vom Mainstream der oft oberflächlichen und nationalstaatlich orientierten Berichterstattung ist Bertz und seinem Team ein gelungenes erstes Resümee der Pandemie gelungen. Seneca lässt grüßen: Die gefährlichste Pandemie ist immer noch unsere Unvernunft. (ALBUM, Georg Cavallar, 5.6.2021)