H.C. Artmann fotografiert von Sepp Dreissinger. Das Literaturhaus Salzburg zeigt gegenwärtig eine Auswahl von Porträt-Fotografien, die Dreissinger im Zeitraum von zwei Jahrzehnten von Artmann machte. www.literaturhaus-salzburg.at

Foto: Sepp Dreissinger

Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mein Stiefvater mich auf einen Ausflug mit. Der bestand darin, H. C. Artmann in dessen Wohnung zu besuchen. Mein Stiefvater (Herbert Maurer) war damals ein junger Schriftsteller und hatte Angst, dass sein Idol ihm gleich die Tür zeigen würde. Stattdessen blieben wir bis spät in die Nacht, vertieft in Burgenländerwitze, Mister Spock und Donald Duck. Es blieb meine einzige persönliche Begegnung mit Artmann, aber sie war prägend.

Mein Verhältnis zur deutschsprachigen Literatur war nicht gut. Ich las gern, aber auf Tschechisch – auf Deutsch nur Comics. Schon in der Volksschule hatte mich die tschechische Dichtung zwischen Romantik und Surrealismus begeistert, und was im Deutschunterricht der Unterstufe serviert wurde, konnte ihr nicht das Wasser reichen.

Artmann war einer der Ersten, den ich freiwillig auf Deutsch las, und siehe da: Seine Abenteuerprosa hat mir Spaß gemacht. Spaß ist etwas, womit die "ernstzunehmende Gegenwartsbelletristik" nichts am Hut haben will. Dann kam Wolfgang Bauer dazu (der wäre dieses Jahr 80 geworden), dann Rilke, und bald sah ich, dass einen auch das Deutsche "an den Eiern packen" und musikalisch, leidenschaftlich, lustig sein kann. Artmann hat also zu meiner Integration beigetragen. Angesichts der Deutschbücher, mit denen meine Frau sich plagen musste (bei uns haben alle Migrationshintergrund), frage ich mich, wie sich jemand "integrieren" soll, der gezwungen wird, so ein liebloses Beamtenkauderwelsch zu lernen.

Leuchtende Worte

Als ich klein war, gefielen mir an Artmann vor allem seine unterschiedlichen Stile und Sprachregister vom Wiener Dialekt bis zu Archaismen – und nicht zuletzt die Zitate in diversen Fremdsprachen. Das machte mich hungrig, ich wollte auch alle uralten Rechtschreib- und Grammatikregeln anwenden können und überhaupt alle Sprachen lernen, am meisten die toten. Ich wollte die Systeme der Grammatik und der Versmaße miteinander vergleichen und kapieren, warum ein Satz sich schön oder beängstigend anhören kann, je nachdem, welchen Rhythmus er hat und wie die Laute zusammenspielen. Besonders begeisterte mich, dass ich in Artmanns Band Von denen Husaren und anderen Seil-Tänzern Parallelen zur tschechischen Dichtung entdeckte. Artmann hat in den 1950er-Jahren nachgeholt, was von der deutschsprachigen Literatur jahrzehntelang versäumt worden war. Er eignete sich die Errungenschaften des Surrealismus an, befreite das poetische Bild aus dem Schraubstock der Logik und schuf neue, traumartige Zusammenhänge.

Nicht zuletzt musste er die Sprache des Nationalsozialismus überwinden und das beschädigte Deutsche wieder mit Liebe, Wahrheit und Schönheit füllen. Vítězslav Nezval (1900–1958), Mitbegründer des tschechischen Poetismus und später Surrealist, schrieb, dass die Wörter durch ihren häufigen Gebrauch blass geworden seien und erst in ungeahnten Zusammenhängen wieder zu Leuchten begännen.

Befreiung der Fantasie

Die Befreiung der Fantasie von krampfhafter Rationalität habe laut Nezval einen praktischen Effekt. Sie mache empfänglich für die Schönheit und gehe Hand in Hand mit dem Streben nach physischer Freiheit. Oder anders: Wenn ich die Schönheit der Sprache sehe, sehe ich die Schönheit in den Menschen und strebe nach der Schönheit der Welt.

Im Gegensatz zu den französischen Surrealisten legten die tschechischen Poetisten höchsten Wert auf klangliche und formale Aspekte ihrer Gedichte. Sie nutzten die Regeln des Reims und der Versmaße als Inspirationsquelle. Ähnlich verfuhr Artmann in den Gedichten des Husaren-Bandes. Er verfasste sie in gereimten Alexandrinern und einem barock archaisierenden Stil. Mit "o ader blut enteiser & frischer freuden lack" spricht Artmann den Frühling an.

Eine weitere Parallele mit der tschechischen Literatur ist Artmanns Interesse an Abenteuern und entlegenen Quellen. Nezval verfasste 1935 den Roman Valerie und die Woche der Wunder über sexuelles (poetisches) Erwachen und Vampire. Ein wahrer Spezialist für Abenteuerromane war der Universalkünstler, Holzstecher und Autor Josef Váchal (1884–1969), der 1924 ein äußerst unterhaltsames und vielschichtiges Werk mit dem Titel Der blutige Roman verfasst, gesetzt, illustriert und in nur 17 Stück Auflage gedruckt hat.

Heute ist es in Tschechien ein Dauerbestseller. Váchal nutzte das Schriftbild als zusätzliche Illustrationsebene und baute absichtliche Setzfehler ein, um Mehrdeutigkeiten entstehen zu lassen. Auch flocht er ein riesiges Netz aus Anspielungen und Zitaten, ähnlich wie es Artmann in seinen Anmerkungen zum Haupttext der Husaren getan hat. Auch diese Verfremdungen und Zitate sind ein Mittel, um leuchtende Assoziationen zu wecken. Ich beschloss also aus all diesen Gründen, Artmann zum 100. Geburtstag eine Neuausgabe seines Bands Von denen Husaren und anderen Seil-Tänzern zu schenken. Sie ist Zeile für Zeile gleich umgebrochen wie die Erstausgabe. Die besonders archaisierenden Anmerkungen sind wie in der Erstausgabe in der Schwabacher Schrift gesetzt. Das ist wichtig, weil sie auf diese Weise noch ein paar Jahrhunderte älter wirken als der Haupttext. Illustriert ist der Band mit neuen Holzschnitten von Christian Thanhäuser, der mit Artmann viel zusammengearbeitet hat und ein erklärter Verehrer Váchals ist.

Illustriert ist der Band "Von den Husaren und anderen Seil-Tänzern" mit Holzschnitten von Christian Thanhäuser, der viel mit H.C. Artmann zusammengearbeitet hat.
Foto: Ketos Verlag

Ungereimtheiten und Quellensuche

Ursprünglich hatte ich vor, für das Nachwort stichprobenartig ein paar der fremdsprachigen Zitate Artmanns zu überprüfen, um zu sehen, ob sie echt oder erfunden sind. Aber es packte mich die Neugier – und der Ärger darüber, dass so viel über Artmann geschrieben wurde, ohne dass je seine Quellen identifiziert worden wären. Außerdem fielen mir Ungereimtheiten im Lateinischen auf, und da wollte ich wissen, ob das an Artmanns Quellen liegt oder ob es sich einfach um Setzfehler handelt, die seit der Erstausgabe in allen späteren Auflagen perpetuiert wurden.

Ich konnte nicht anders, als mir ein halbes Jahr Zeit zu nehmen und all die völkerverbindenden lateinischen, osmanischen, slowenischen, spanischen, okzitanischen, isländischen, altgriechischen usf. Zitate anzusehen. Dabei gelang es, mehrere Quellen zu identifizieren. Artmann zitiert gern aus zweiter Hand: So stammen fast alle lateinischen Zitate samt deren gereimten Übersetzungen aus der Predigtensammlung Evangelisches Bitter-Süß von Eusebius a Sancto Tiburtio (1736). Die Motive vieler Husaren-Geschichten stammen aus Schwänken des 16. Jahrhunderts, die Karl Goedeke gesammelt hat (1879). Andere Motive übernahm Artmann aus der Sammlung isländischer Literatur von Hugo Gering (1882–1884). Aus Gerings lateinischen Vergleichstexten krallte er sich weitere Zitate. Außerdem arbeitete er mit dem mehrbändigen Werk Geschichte der Magyaren von Johann Mailáth und zwar, wie Details es andeuten, mit der ersten Auflage (1828–1831). Die osmanischen Verse übernahm er aus der Monumentalanthologie osmanischer Dichtkunst von Johann von Hammer-Purgstall (1836–1838). Aber genug, alle neuentdeckten Quellen anzuführen würde den Rahmen sprengen.

Vielsprachiges Miteinander

Interessant ist, dass Artmann seine konkreten Quellen nicht anführt, sondern die Zitate teilweise Autoren zuschreibt, die in den Quellen irgendwo in der Nähe angeführt sind. Beispiel: Ein spanisches Zitat, das Artmann Diego de Haedo zuschreibt, stammt in Wahrheit aus einer Fußnote zu Don Quijote, in der auf de Haedo nur verwiesen wird. Nicht zuletzt zeigte sich auch, welche Zitate Artmann selbst gedichtet hat. So übernimmt er zum Beispiel ein provenzalisches Zitat wörtlich aus einem Lesebuch von Karl Bartsch (1855). Das andere provenzalische Zitat enthält Fehler und scheint sich am Vokabelverzeichnis desselben Lesebuchs zu orientieren.

Die Geburtstagsausgabe von H. C. Artmanns Husaren macht also dreifach Spaß, weil sie illustriert, kommentiert und erstmals korrigiert ist (alle Korrekturen sind im Apparat angeführt). Ein weiterer Forschungsschritt bestünde in der Untersuchung, warum Artmann gerade die konkreten Stellen seiner Quellen verwendet hat und nicht andere. Zum Abschluss: Artmanns Husaren sind auch ein Plädoyer für ein friedliches, lustvolles, vielsprachiges Miteinander.

Gerade heute, da man bezüglich sprachlicher Korrektheit empfindlich ist, sind die Husaren aktuell und erfrischend, etwa als Vorschlag für den Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Langsam dringen wieder, unabsichtlich, nationalsozialistisch geprägte Wörter und Gedanken ins Deutsche. Teils liegt es am gut gemeinten Streben nach einer hyperpräzisen, korrekten Ausdrucksweise: Das Wort "Kulturschaffende" haben aber die Nazis erfunden. Teils liegt es am Streben der zeitgenössischen Literatur nach einer gewissen Wucht: Artmann würde einen Lockdown niemals mit "Vernichtung" vergleichen, wie es eine österreichische Autorin kürzlich getan hat. Andererseits ist die "Mohrin" in Artmanns Husaren stets die Heldin schlechthin. Auch ich will so eine tapfere Mohrin sein. (ALBUM, OndrejCikán, 5.6.2021)