"Man sieht mich da und dort noch im Rettungswagen", sagt der Landeskommandant des Roten Kreuzes Wien. Meist sitzt Michael Sartori aber im Büro.
Foto: Robert Newald

Nur einmal in 30 Jahren hat Michael Sartori mit dem Gedanken gespielt, das Rote Kreuz zu verlassen und etwas anderes zu machen. Damals war Sartori Geschäftsführer der Bezirksstelle in St. Pölten und schon sehr weit im Bewerbungsverfahren bei einem anderen Dienstgeber. Als er in dieser Zeit durch die Bezirksstelle ging, kamen ihm die Tränen: "Ich wusste, ich will es doch nicht lassen." Also blieb Sartori.

Er mag die Unvorhersehbarkeit des Jobs und die Vielfalt der Aufgaben. Und dass diese einem klaren Wertegerüst folgen, wie der Menschlichkeit und Unparteilichkeit, und nicht nur einem singulären Ziel, wie etwa der Gewinnmaximierung in einem Wirtschaftsbetrieb. Seit April ist er Landesrettungskommandant des Wiener Roten Kreuzes und verantwortet die Bereiche Rettungs-, Katastrophenhilfs- und Ambulanzdienst. Zusätzlich ist der 55-Jährige für den Bereich der 2500 freiwilligen Helferinnen und Helfer in Wien, die sich etwa bei der Team-Österreich-Tafel oder der Lernunterstützung für Kinder engagieren, verantwortlich.

In die Rettung hineingerutscht

Es war nicht immer Sartoris Ziel, beim Roten Kreuz zu landen. Sein Vater war lange Ehrenamtlicher, später Funktionär und Gründungsmitglied einer Ortsstelle in Niederösterreich. In einer "jugendlichen Aufruhrstimmung" war für Sartori klar: "Zu dem Verein gehe ich nicht. Wenn der Papa da so erfolgreich ist, ist das wahrscheinlich nicht die richtige Organisation für mich." Mit 25 Jahren hat sich seine Einstellung geändert – beim Zivildienst. "Ich habe eine Faszination für diese Aufgabe gespürt und welche Bereicherung es ist, mit so vielen unterschiedlichen Menschen in der Gesellschaft zu arbeiten", erinnert sich Sartori. Über den Zivildienst ist er in den Rettungsdienst "hineingerutscht", brach das Studium der Sozial- und Wirtschaftsstatistik an der Universität Wien ab, weil er die Tätigkeit beim Roten Kreuz und die Gründung einer Familie als wichtiger erachtete. Sartori arbeitete anschließend bei der Niederösterreichischen Landeshauptstadt Planungsges.m.b.H., engagierte sich nebenher ehrenamtlich und machte die Offiziersausbildung beim Roten Kreuz. 1995 wurde er gefragt, ob er die Geschäftsführung der Bezirksstelle St. Pölten übernehmen wolle.

"Ich war glücklich, eingeladen zu werden, mein Hobby zum Beruf zu machen – dass das auch Herausforderungen bietet, habe ich erst in der Folge bemerkt", sagt Sartori rückblickend. Denn mit dem Tag der Anstellung werden auch die zeitlichen Möglichkeiten, sich zusätzlich am Wochenende oder im Nachtdienst zu engagieren, weniger. Schaffe man das, sei das toll, aber: "Man muss die Leute manchmal auch vor sich selbst schützen", sagt der Landeskommandant. Der Job ist ohnehin psychisch wie körperlich belastend, da sei Erholung wichtig.

Sartori, dessen Job nicht mit 40 Stunden abzutun sei, holt sich den Ausgleich beim Golfen. Als er damit begonnen hatte, dachte er, er könne dabei gut über berufliche Themen nachdenken: "Das ist ein Fehler. Beim Golfspielen denkt man am besten über gar nichts nach und genießt die drei Stunden, um völlig loszulassen und dann mit frischem Elan weiterzuarbeiten." Der Landeskommandant ist berufsberechtigter Nofallsanitäter – aber nicht im ausübenden Dienst. "Man sieht mich da und dort in einem Rettungswagen, aber ich bin zu wenig in der Routine, um bei einem Notfall eine Verantwortungsfunktion zu übernehmen", gibt er zu. Dennoch absolviere er regelmäßig die vorgeschriebenen Rezertifizierungen und Weiterbildungen, mit 50 machte er den Lehrgang für Risikoprävention und Katastrophenmanagement an der Uni Wien.

Seit Sartori vor über 30 Jahren beim Roten Kreuz anfing – und sein Vater vor noch längerer Zeit –, hat sich einiges geändert. "Als mein Vater mit 16 beigetreten ist, hat er – wie ich es gern nenne – eine unbefristete Unterwerfungserklärung mit Gehorsamkeitsverpflichtung unterschrieben, eine angepasste Uniform bekommen und ist sein Leben lang geblieben." Dabei ging es nicht nur um das Ehrenamt, sondern auch um die sozialen Kontakte, die Freizeitgestaltung.

Kurz und flexibel engagieren

Heute gibt es – gerade in der Stadt – genügend Angebote für junge Menschen, die "streng hierarchische Organisation" eines Roten Kreuzes sei zudem nur für wenige interessant, erzählt Sartori. Vielmehr wollten sich die Freiwilligen nicht lange binden, sich kürzer und flexibler engagieren. Etwa in akuten Notsituationen wie bei der Fluchtbewegung 2015 am Wiener Westbahnhof. Oder im Team Österreich, wo Freiwillige mit Einsatzkräften zusammenarbeiten. Den ersten Einsatz des Teams beim Hochwasser 2013 hat Sartori miterlebt. Solche Situationen zeigten, dass es eine gewisse Organisation und Hierarchie braucht – "in einem Maß, dass es auch für jene akzeptabel ist, die sich auch deshalb nicht an eine NGO binden wollen". Daher arbeitet Sartori laufend an Konzepten, wie zeitgemäße Formen von Freiwilligenarbeit aussehen können. Und welche Rolle das Rote Kreuz in der Organisation übernehmen kann.

Und wie sieht die Bereitschaft aus, in einer Notsituation wie der aktuellen Pandemie zu helfen? "Die Pandemie hat uns gezeigt, dass es ein großes Maß an Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft gibt", sagt Sartori – auch wenn die anfänglichen Solidaritätsbekundungen, Nachbarschaftshilfen und der Applaus für Beschäftigte im Gesundheitsbereich mittlerweile abgeklungen sind. Es sei nicht verwunderlich, sagt Sartori, "dass sich nach einem Jahr in dieser sehr speziellen Ausnahmesituation bei allen eine gewisse Müdigkeit breitmacht".

Auch bei seinen Einsatzkräften, die in einer solchen Situation bereit seien, mehr Risiko auf sich zu nehmen. Das täten sie auch bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahn, wendet Sartori ein, "aber das ist greifbarer als ein unsichtbares Virus". Für diesen Dienst könne es "nie genug Wertschätzung geben". Die Frage sei letztlich, wie sie sich ausdrückt – beispielsweise im Finanziellen. Zuletzt forderte das Rote Kreuz auch einen Corona-Bonus für Sanitäter und ihren Einsatz in der Krise. Die nächste Ausnahmesituation wird wohl genauso unvorhersehbar sein wie die aktuelle. Aber das mag Sartori ja an seinem Job. (Selina Thaler, 6.6.2021)