Vater und Sohn, Welten trennen sie: Lance Henriksen und Viggo Mortensen (re.) in "Falling

Foto: Filmladen

Viggo Mortensen war schon immer ein unberechenbarer Geist und wechselte mühelos zwischen seiner Rolle als Aragorn in der Herr der Ringe-Saga und dem Kopfkino von David Cronenberg oder einem Oscar-Erfolg wie Green Book. Für sein Regiedebüt Falling übernahm er nun selbst den Part eines schwulen Mannes, der sich mit seinem Vater Willis auseinandersetzen muss, der an beginnender Demenz leidet. Dieser Willis könnte nicht gegensätzlicher sein als er: Grob, schamlos und offen homophob, gibt er seinem Sohn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verstehen, dass er sein Lebensmodell verachtet.

Falling dringt in das generationelle Schlachtfeld einer Familie ein, ohne die feinen Risse und Verletzungen zu übersehen, die sich abseits der großen Konfrontationen zeigen. Für den Part von Willis konnte Mortensen den vor allem aus Genrefilmen bekannten Haudegen Lance Henriksen gewinnen, der eine überragende Leistung als Mann vollbringt, dem seine Wut regelrecht den Verstand raubt. Im Videogespräch erzählt der Neoregisseur auch über die gesellschaftlichen Hintergründe seines Films.

Movie Coverage

STANDARD: Vulgär, homophob, rassistisch – mit Willis haben Sie sich einen besonders harten Brocken von Mann ausgedacht. Welche Beziehung hat die Figur zu Menschen aus Ihrem eigenen Umfeld?

Mortensen: Er ist eine extreme Variante vieler Personen und hat durchaus auch Eigenschaften meines eigenen Vaters, Onkels und Stiefvaters an sich. Ich wollte jedoch vor allem ein Gefühl ausdrücken, das ich gegenüber der Vergangenheit empfinde, gegenüber einer bestimmten Generation. Es geht um Männer, die im Großen und Ganzen nicht sehr flexibel waren. Eine klassisch patriarchalische Form des Familienoberhaupts, das sich nicht an andere Leute anpasst, im Grund überhaupt keine Beziehungen eingeht. Genauso wenig passen sie sich an modernere Zeiten an. Von einem Jahrzehnt zum anderen ändern sie nichts. Ihr Wort gilt immer als das letzte. Willis ist typisch für diese Generation. Mein Vater war freigiebiger mit seinen Gefühlen, aber auch ihm fiel es schwer, einfach einmal Danke zu sagen. Er brachte es nicht über sich, sich für irgendetwas zu entschuldigen. Männern hat man damals eben eingebläut, niemals Gefühle zu zeigen. Das galt als Schwäche.

STANDARD: Heute würde man sagen: Es handelt sich um toxische Männlichkeit. Ist dieser Begriff zu generalisierend? Ihre Figur John bringt eine Engelsgeduld gegenüber Willis auf.

Mortensen: Geduld ist bei den meisten Menschen leider aufgebraucht. Man hat zwar viele Aspekte des sozialen Miteinanders erforscht und nachjustiert. Das hat zu viel politischer Korrektheit im Umgang geführt, was ich großartig finde. Das ist der richtige Weg, aber manchmal ist man zu extremistisch – und zwar an beiden Enden. Und zwar dann, wenn es dazu führt, dass überhaupt keine Kommunikation zwischen den Menschen mehr gelingt. Der Graubereich, der für die Debatten nötig ist, wird immer kleiner. Das ist gefährlich. Wir haben nicht nur Covid, sondern auch eine Kommunikationspandemie.

STANDARD: Sie meinen, dass das Unvermögen, eine gemeinsame Basis zu finden, eine neue Qualität angenommen hat?

Mortensen: Auf jeden Fall. Nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern. Es ist nicht nur ein Mangel, manchmal fehlt jede Grundlage für einen Dialog. Das führt wiederum dazu, dass sich das Stammesdenken immer mehr durchsetzt: diese Angst, die von Unwissenheit kommt. Wenn man etwas nicht kennt, dann denkt man gleich, dass man es auch nicht mag. Willis verkörpert diese Vorstellung, dass anderes Verhalten unweigerlich als Bedrohung aufgefasst wird. Ich schieße, bevor ich irgendwelche Fragen stelle – das ist seine Philosophie. Menschen sind faul. Es ist viel einfacher, Leute zu verurteilen und abzutun, als darüber nachzudenken, was sie zu sagen haben, und sie verstehen zu wollen.

STANDARD: Haben Sie John zu einem schwulen Mann gemacht, damit der Unterschied noch größer ausfällt?

Mortensen: Ich habe das nicht bewusst so entschieden. Die erste Szene, die ich schrieb, war jene, wie der Vater in einem verwirrten Zustand wegspaziert und dann stundenlang gesucht wird. Ich überlegte, wie ich es anlegen soll, wenn danach der Sohn und seine Frau verständigt werden. Da dachte ich, was, wenn es gar keine Frau, sondern einen Ehemann gibt? Das erleichterte dann auch vieles beim Erzählen. Man versteht gleich, es gibt ein Problem. Willis’ Vorstellung davon, welcher Mann John einmal werden sollte, war eine andere.

STANDARD: So ungefähr das äußerste Gegenteil, nehme ich an.

Mortensen: Ja, wobei es mir nicht so sehr um die sexuelle Orientierung ging. Der wichtigste Unterschied liegt für mich in den Familienmodellen von Willis. Während bei John und Eric Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse im Dialog und mit Empathie ausgetragen werden, gibt es bei Willis keine Lösungen. Es wird einfach herausgeschrien, man verbietet einem den Mund und verlangt Gehorsam.

STANDARD: Wenn man die Geschichte auf ganz Amerika überträgt, dann könnte man den Film auch als Kommentar zu der Kluft zwischen dem ländlichen, konservativen Teil des Landes und dem liberalen Amerika der Städte sehen.

Mortensen: Den Vergleich kann man sicher ziehen. Allerdings spiegelt eine Geschichte über eine Familie immer auch die Gesellschaft als Ganzes. Als ich das Drehbuch 2015 zu schreiben begonnen habe, war Donald Trump bereits Präsidentschaftskandidat. Die Kluft zwischen Land und Stadt, mit all den Generalisierungen, gibt es freilich schon länger. Die Polarisierungen haben auf jeden Fall weiter zugenommen, es wurde schon während der acht Jahre von Obama schwieriger, einen Konsens zu finden. Dieses Virus hat sich ausgebreitet, auch deswegen, weil es von Politikern noch gestärkt wurde. Man glaubt, daraus einen Vorteil zu beziehen. Die Politik trennt, statt Zusammenhalt zu schaffen.

STANDARD: Diese Trennung reicht dann, wie man im Film sehen kann, bis ins Innere der Familie hinein?

Mortensen: Als ich die Geschichte überarbeitete, ungefähr bis 2018, entschied ich mich ganz am Ende dazu, sie nicht in der Gegenwart, sondern 2009, zu Beginn der Obama-Jahre, spielen zu lassen. Da gab es noch eine größere Balance. Man kann Willis zwar als Trump-Figur sehen, was seine Intoleranz, den Rassismus, die Misogynie anbelangt. Aber zu diesem Zeitpunkt bekam man das noch nicht 24/7 zu sehen. Der eine wirklich große Erfolg von Trump war ja, dass es ihm gelungen ist, dass das Gerede über ihn nie abbricht. Er blieb bis zuletzt jeden Tag in den News. 2009 war das noch nicht der Fall, da sprach man auch noch über Geschichte oder Kunst. Oder über den Klimawandel!

STANDARD: Kommen wir noch zu Lance Henriksen – man kennt ihn vor allem aus Action-, Horror und Science-Fiction-Filmen wie der "Alien"-Reihe. Wie sind Sie auf ihn gekommen, und wie viel hat er selbst eingebracht?

Mortensen: Ich wusste, dass Lance ein humorvoller Mensch und ein guter Geschichtenerzähler ist. 2008 spielte ich mit ihm im Western Appaloosa. Beim Schreiben kam mir dann wieder sein Alter, sein Typ, seine Präsenz und Stimme in den Sinn. Ich wusste zwar, dass er eine solche Rolle nie gespielt hatte. Doch egal, wie verrückt ein Film war oder wie schwer klassifizierbar das Genre – er blieb immer interessant. Er wusste, was als Schauspieler zu tun ist, auch wenn um ihm herum unglaubliche Dinge passierten. Er ist also sehr gut vorbereitet und arbeitet hart. Er will vermeiden, dass er beim Schauspielen erwischt wird. Und er hatte keine Furcht, Willis so zu spielen, wie es gedacht war, also ohne irgendeinen Kompromiss einzugehen.

STANDARD: Musste er sich dafür auch neuen Herausforderungen stellen?

Mortensen: Definitiv, denn er wollte seinen Part ja leben, damit es authentisch wirkt. Jeder Schauspieler hat dafür seine eigenen Mittel. Für Lance hat es Jahrzehnte gedauert, die Schäden, die er schon als Kind erfahren musste, zu überwinden. Er hatte eine sehr schwierige Kindheit. Um diese Rolle zu spielen, musste er einige dunkle Orte seiner Vergangenheit wiederaufsuchen. Eltern sind oft keine gute Eltern.

(Dominik Kamalzadeh, 5.6.2021)