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Julian Baumgartlinger hat den Fußball wieder im Blickfeld, er ist Teil des österreichischen EM-Kaders. Er hat den Kampf gegen die Zeit gewonnen. "Das ist absolut genial."

Foto: REUTERS/Peter Powell

1. Akt: Der Unfall

Es ist der 23. Jänner 2021, ein Samstag, 18. Runde der deutschen Bundesliga, Bayer Leverkusen empfängt Wolfsburg. Der 33-jährige Julian Baumgartlinger wird in der 74. Minute eingewechselt, Wolfsburg führt 1:0. Die Woche über hatte er leichte muskuläre Probleme, folglich gehörte er nicht der Startelf an. 81. Minute: ein Zweikampf mit dem Goldtorschützen Ridle Baku, eigentlich steigt ihm Baumgartlinger auf den Fuß. Ein Stich, ein Schrei, Baumgartlinger liegt auf dem Boden, hält sich das linke Knie. Leverkusens Betreuer eilen aufs Feld, kurze Behandlung, sie helfen ihm auf, stützen ihn beim Abgang, ein Auftreten ist unmöglich. Baumgartlinger sitzt in der Kabine, es ist knapp vor 18 Uhr. Das Knie schmerzt, ist angeschwollen, wird mit Eis gekühlt. Die medizinische Abteilung im Stress, die Mitspieler trösten, bemitleiden und tätscheln ihn, sprechen ihm Mut zu. Das wird schon wieder, du schaffst es. Wenn es einer packt, dann du, der "Jules", ein Kämpfer vor dem Herren. "Mitleid ist nicht wirklich schön, aber in manchen Momenten tut es gut."

Selbstmitleid ist natürlich auch keine Lösung, aber nicht zu verhindern. Baumgartlinger stellt sich die nicht zu beantwortende und deshalb eher sinnlose Frage: Warum gerade ich? Er hat Zukunftsängste, schließlich ist er nicht mehr der Jüngste, er befindet sich im letzten Drittel seiner Karriere. "Man lässt sich kurz gehen, aber wirklich nur kurz." Es gelingt ihm, nach rund einer Stunde, der Schockstarre zu entfleuchen, die Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken. "Optimismus kennt in so einer Situation keine Alternative." Und er legt die nächste Packung Eiswürfel aufs Knie.

Der bittere Moment im Jänner dieses Jahres.
Foto: imago images/regios24/Darius Simka

Die MRT-Untersuchungen bestätigen später, was Baumgartlinger befürchtete, ja wusste. Fußballer kennen ihren Körper. Wenigstens ist das vordere Kreuzband im linken Knie nicht ganz, sondern nur zum Teil abgerissen. Noch am Abend Besprechungen mit den Ärzten seines Vertrauens, sie erachten eine Operation als beste Lösung, der Patient stimmt selbstverständlich zu.

Baumgartlinger wird nach München chauffiert und am 25. Jänner von Professor Stefan Hinterwimmer operiert. Der Eingriff in Vollnarkose mit dem Glasfibertape sei, heißt es, gut verlaufen. Nach zwei Tagen wird Baumgartlinger aus dem Spital entlassen. Heim ins Haus nach Düsseldorf. Seine Frau Laura ist hochschwanger, die beiden kleinen Töchter staunen über die Krücken, das geschiente Bein, stellen Fragen, verstehen nicht wirklich, warum der Papa mit ihnen jetzt nicht wild spielen kann. Dabei sind sie doch so brav gewesen. Der Vater versucht, Überzeugungsarbeit zu leisten, manchmal gelingt es, manchmal nicht. Baumgartlingers Eltern reisen aus Salzburg an, um zu helfen, den Haushalt zu schupfen. Das Rehabilitationsprogramm ist erstellt. Es sieht vor, dass in rund vier Monaten professioneller Fußball wieder möglich ist. Baumgartlinger: "Du brauchst einen Plan und Zielvorgaben." Sein großes Ziel: die Teilnahme an der Fußball-EM.

Rund eine Woche nach der Operation nimmt DER STANDARD Kontakt zu Baumgartlinger auf. Man spricht über Gott, Fußball, Corona, die Welt und über teilabgerissene Kreuzbänder. Die Idee wird geboren, Baumgartlingers Weg zurück zu begleiten. Die Pandemie ist freilich ein Hindernis, direkte Kontakte, Besuche sind untersagt. Corona ist eine soziale Zumutung. Also wird in regelmäßigen Abständen telefoniert und gemailt. Über Fortschritte und etwaige Rückschläge. Der Teamkapitän nimmt sich die Zeit, die er nun hat.

Das erste Ziel: weg mit den depperten Krücken. Das zweite Ziel: sich ans Gehen heranführen. Fußballer, sagt er, leben von der Bewegung, Baumgartlinger vermisst sie. Er beginn sofort mit der Reha, Angestellte von Bayer holen ihn in der Früh mit dem Auto aus Düsseldorf ab, bringen ihn am Nachmittag wieder retour, eine Strecke dauert rund 45 Minuten.

2. Akt: Das Wohnzimmer

Sein zweites Wohnzimmer liegt fortan im dritten Stock der Bay-Arena, dort befindet sich der Fitnessraum mit all den schikanösen Geräten, eine hochmoderne Folterkammer. Baumgartlinger lagert das Bein hoch, stählt im Sitzen den Oberkörper. Die Kabinen liegen im Erdgeschoß, vom Fenster aus blickt er runter auf den Rasen. Wenn er wollte, könnte er den Kollegen beim Trainieren zuschauen. Baumgartlinger will eher nicht, ist auf sich konzentriert. Hin und wieder erhält er Besuch von anderen verletzten oder rekonvaleszenten Spielern, mit den Bender-Zwillingen Lars und Sven herrscht regelmäßiger Kontakt, er mag die beiden, da ist im Laufe der Jahre eine Freundschaft entstanden. Das Leben eines gesunden Fußballers ist extrem strukturiert. Jenes von Baumgartlinger auch, aber halt ganz anders. Nach zehn Tagen stellt er die Küchen ins Eck. Auf Nimmerwiedersehen.

Die "Folterkammer" in der Bay-Arena wird das zweite Wohnzimmer.
Foto: APA / Robert Jäger

Die Abende verbringt er mit der Familie, im Garten kann man gut Luft schnappen, er genießt die Zeit. Das Bein muss er nach wie vor hochlagern, die Schmerzen nehmen sukzessive ab. Baumgartlinger besucht die Heimspiele von Leverkusen, er sitzt und friert im leeren Stadion. "Man hat sich an die Geisterspiele gewöhnt, obwohl man sich daran nicht gewöhnen will." Zuschauen fällt ihm schwer, er vermisst das Adrenalin vor, während und nach dem Match, der Wettkampf fehlt ihm. Die Auswärtspartien lässt er aus, die Reisen wären mit enormen Aufwand verbunden gewesen, er müsste zur Vorbereitung mit in die Quarantäne, das wäre völlig absurd. Sind die Töchter eingeschlafen, liest Baumgartlinger Bücher aus echtem Papier, die Biografie von Barack Obama verschlingt er förmlich. Auf Englisch. Im Fernsehen schaut er relativ selten Fußball, nur ausgewählte Champions-League-Partien bekommen Platz auf dem Flachbildschirm. Seine Begeisterung hält sich in Grenzen.

Die kleinen Erlebnisse werden zu großen: Zwei Wochen nach der Operation kann er in den Supermarkt einkaufen gehen. Aufrecht, gerade, normalen Schrittes. Keiner der anderen Kunden bemerkt irgendetwas Unrundes an Baumgartlingers Gang. Die Narbe ist verheilt. "Ich gehe fast wie ein normaler Mensch." Er ist sehr freundlich zu seinem Knie, pflegt es, hört ihm quasi zu, behandelt es mit Topfenumschlägen, die beiden haben eine enge Beziehung aufgebaut. Ob das rechte Knie eifersüchtig ist, sei dahingestellt und ist wurscht. Mitte Februar beginnt Baumgartlinger mit Radfahren. Im dritten Stock der Bay-Arena. Ganz vorsichtig und behutsam, hin und wieder zwickt das Knie, aber wirklich nur hin und wieder. "Die Kunst ist es, geduldig zu bleiben." Baumgartlinger ist dem Plan sogar etwas voraus. "Mental geht es mir gut, obwohl alles sehr anstrengend ist."

Am 17. Februar verlängert Leverkusen den im Sommer auslaufenden Vertrag um ein Jahr. Ein Zeichen von Respekt, Baumgartlinger ist froh ("Ein starkes Zeichen") und sagt, "dass dies keine Almosen sind". Sportdirektor Simon Rolfes spricht vom Wert, den Baumgartlinger auch diese Saison für die Werkself unter Beweis gestellt habe. "Wir freuen uns sehr, ihn nach seiner Genesung als ausgewiesenen Führungsspieler für ein weiteres Jahr in unseren Reihen zu haben." Für Sport-Geschäftsführer Rudi Völler ist der defensive Mittelfeldspieler "ein Anker und Stabilisator besonders für unsere jungen Spieler".

3. Akt: Die Sehnsucht

Und Baumgartlinger fährt im dritten Stock fleißig Rad. Das Laufband steht gleich nebenan. Er schuftet, tastet sich langsam ans Laufen heran. Seit der OP sind fünf Wochen vergangen. Gewichtsreduziert (technisch geht heutzutage praktisch alles) steigt er aufs Band, er ist aufgeregt, es funktioniert. "Bisher gab es weder Hänger noch Rückschläge."

Die Sehnsucht nach dem Ball wächst. Einmal ist er über eine Stufe gestolpert, nix passiert, das Knie hat nicht aufgemuckt. "Solche Kleinigkeiten beruhigen." Und er läuft mit Normalgewicht. Baumgartlinger fährt immer wieder nach Landau zum Physiotherapeuten Mike Steverding, der arbeitet auch für das österreichische Nationalteam, ist ein Kapazunder. Die Schlagzahl wird erhöht. Operateur Hinterwimmer ist hochzufrieden, die Nachuntersuchungen sind positiv, der Genesungsverlauf ist erfreulich, medizinisch passt alles perfekt. Leverkusen verliert Geisterspiel um Geisterspiel, die Mechanismen des Fußballs kommen in Gang. Am 23. März wird Trainer Peter Bosz gefeuert. Man leiht sich vom Deutschen Fußball-Bund Hannes Wolf als interimistische Lösung aus. Baumgartlinger bekommt es im dritten Stock mit. "So ist das Geschäft. Entweder ein Trainer hört von selbst auf, oder er wechselt zu einem anderen Verein. Die dritte Variante ist die weitaus häufigste. Er wird entlassen."

4. Akt: Das Wunder

Baumgartlinger hat derweil andere Sorgen, Nervosität und Vorfreude steigen. Am 27. März kommt Sohn Jonah zur Welt, der Vater war bei der Geburt dabei. "Ein Wunder, wir schweben auf Wolke sieben, ich bin vom Glück gesegnet. Corona spielt keine Rolle. Das Leben ist wunderbar."

Baumgartlinger verlässt den dritten Stock. Das Training auf einem echten, grünen Fußballplatz beginnt. Individuell. Ohne Kontakt. Kurze Sprints, schnelle Richtungsänderungen, Sprünge, Landungen. Als ihm dann ein Betreuer den ersten Ball zuschupft und er ihn einwandfrei annimmt und wieder zurückspielt, ist ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer für Baumgartlinger geschafft. Über die Wochen 13 und 14 mailt er: "Sehr erfreuliche zwei Wochen, durchgehend positiv. War fast jeden Tag am Platz, individuell super trainiert. War sehr gut für den Kopf, mental ein Riesen-Step, aber auch körperlich sehr positiv, da die meisten Inhalte wieder möglich sind. Das bedeutet aber auch, dass die Reha so anstrengend ist wie zu keinem Zeitpunkt. Ich befinde mich am Peak, das spüre ich, das ist aber etwas, was ich gerne mache. Ich versuche jetzt die restlichen Defizite aufarbeiten, die noch da sind, und dann hoffe ich, dass ich nicht mehr weit weg davon bin, mit der Mannschaft zu arbeiten. Die Aussichten sind gut, es geht mir hervorragend, ich bin vorsichtig optimistisch."

Am 2. Mai folgt eine weitere Untersuchung in München, Hinterwimmer gibt dem Knie quasi das Pickerl, Baumgartlinger darf ins Mannschaftstraining einsteigen. "Das Urvertrauen in mein Knie ist zurückgekehrt." Die ersten gemeinsamen Einheiten, die ersten vorsichtigen Zweikämpfe, Ballstafetten, Standards, Schüsse, Flanken. Glücksgefühle. Telefonat mit Teamchef Franco Foda, der zeigt sich erfreut über den Fitnesszustand. Baumgartlinger verspricht, nur im vollfitten Zustand zur Nationalmannschaft zu stoßen. "Ich will aus falschem Ehrgeiz niemandem den Platz wegnehmen. Das wäre noch verrückter als eine EM in elf Ländern."

Am 19. Mai gibt Foda seinen erweiterten EM-Kader preis, Baumgartlinger ist dabei. Mit einem wirklich nur kleinen Fragezeichen. Leverkusens Trainer Wolf nimmt ihn zum letzten Spiel der Bundesliga gegen Dortmund ins Aufgebot. Baumgartlinger rückt ins Quarantänehotel ein, er genießt diesen prinzipiell erbärmlichen Zustand. "In der Quarantäne habe ich dann wieder die Normalität erlebt, auch wenn es nicht normal ist. Aber für mich war das großartig, ich habe das zelebriert."

Am 22. Mai gibt er in Dortmund gegen Borussia ein Comeback. Wobei Comeback eine leichte Übertreibung ist, Baumgartlinger wird in der 89. Minute eingewechselt, ein richtiger Zweikampf geht sich nicht mehr aus. Leverkusen verliert 1:3, Baumgartlinger kann nichts dafür. Am Tag darauf reduziert Foda das Aufgebot von 30 auf 26 Mann. Baumgartlinger ist logischerweise dabei. Ohne Fragezeichen. Er packt seine Familie zusammen, Abfahrt nach Mattsee, in die zweite, ursprüngliche Heimat.

5. Akt: Der Sieg

Am Pfingstmontag ein vorerst letztes Telefonat mit dem STANDARD. "Absolut genial, ich habe den Kampf gewonnen. Eine emotionale Zeit. Ich durfte die Geburt meines Sohnes in Ruhe miterleben, durfte präsent sein. Und jetzt darf ich wieder Fußball spielen." Geholfen hat eine Erfahrung aus dem Jahr 2013, aufgrund eines Meniskusschadens musste er sogar sechs Monate aussetzen. "Insofern war der Kreuzbandriss kein Neuland." Er dankt den Ärzten, den Therapeuten und vor allem seiner Familie. "Ohne sie hätte ich es nie geschafft." Am 27. Mai fährt Baumgartlinger nach Bad Tatzmannsdorf ins Trainingslager der Nationalmannschaft. Großes Hallo.

Baumgartlinger ist wieder mit von der Partie.
Foto: APA/ROBERT JAEGER

Am 2. Juni wird er in Middlesbrough im Test gegen England in der 81. Minute eingewechselt, es ist sein 83. Länderspiel, Österreich verliert 0:1. Baumgartlinger: "Ein Etappensieg, ich habe mich gut gefühlt." Am Sonntag bei der EM-Generalprobe in Wien gegen die Slowakei dürfte seine Arbeitszeit deutlich verlängert werden.

"Den dritten Stock", sagt Julian Baumgartlinger, "den will ich eigentlich nimmer sehen." (Christian Hackl, 5.6.2021)