Eva Mattes (Mitte) schneidet Schnitzel: In Karin Beiers Hamburger Uraufführungsinszenierung von Elfriede Jelineks Corona-Stück "Lärm" spielen Schweine tragende Rollen.

Foto: matthias horn

Die Bühne ist ein Loch – genauer gesagt jenes Loch im Tiroler Ischgl, das im März vergangenen Jahres traurige Berühmtheit erlangte. Von der Après-Ski-Bude Kitzloch aus verbreitete ein Barmann das Virus über halb Europa: ein Superspreader – auch wenn man damals noch nicht wirklich wusste, was das ist. Ein Loch aber, das ist in unserer Phantasmagorie etwas, in das man hineinfällt und aus dem man nicht wieder herausfindet. Ein Loch ist Gefahr und natürlich auch Lustquelle, es zieht an und stößt ab.

Für eine Dramatikerin vom Schlage einer Elfriede Jelinek ist ein Loch all das und noch viel mehr. Die österreichische Sprachbefragerin und -verdreherin hat ihr jüngstes Stück, das Samstagabend in Hamburg zur Uraufführung kam, genauso rund ums Kitz- wie das Fernsehloch, die Diskurs- wie, pardon, ganz reale Arschlöcher gebaut.

Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen! heißt ihre Corona-Textmühle, die zur Eröffnung der großen Bühne des Deutschen Schauspielhauses zur Uraufführung kam – vor einem Corona-bedingt schütter besetzten Haus; die Regeln in der Hansestadt sind kaum nachvollziehbar streng.

Mediales Dauerrauschen

Mit dem medialen Dauerrauschen, das jegliche Kommunikation der vergangenen 15 Monate übertönte, fängt es im komplett dunklen Theaterraum an. "Hören Sie mir beim Nachreden zu", lautet der erste Satz, der den Grundton für die folgenden drei Stunden liefert. Nachrichtensätze, Wissenschaftsfetzen, Politikergestammel und Verschwörungsbeschwörungen vermengen sich zu einem Sprachstrudel, der sich immer schneller dreht. Eine Kakofonie des Erschreckens und Erbrechens, die nach etwa 15 Minuten dem trauten Anblick einer Skihütte und deren Begleiterscheinungen in Moonboots und Gletscher-Lipgloss weicht. Draußen tobt ein Schneesturm, während sich die Insassen zu den Klängen eines Blasmusiktrios einen Reim auf die Situation zu machen versuchen.

Es ist das Bild der zünftigen Ischgler Skihütte, das Regisseurin und Hausherrin Karin Beier zur Grundlage ihrer Jelinek-Inszenierung gemacht hat (Bühne: Duri Bischoff). Wie immer bei Jelinek sind ihre mäandernden Diskursstücke Steinbrüche, aus denen Regisseure ihre Brocken schlagen. Anspruch auf Vollständigkeit? Diesen begräbt man am besten gleich.

Fäden im Sprachteppich

Bei Lärm hat Jelinek gleich zwei, nein drei bildmächtige Fäden in ihren Sprachteppich verwebt: zum einen Lois Hechenblaikners verstörende Après-Ski-Fotos aus Ischgl, die einen kranken Ballermann in den Alpen porträtieren, und zum anderen die Bilder von Schlachthöfen, in denen das Virus ideale Bedingungen vorfand. Verknüpft wird das Ganze, und das ist Jelineks Clou, vom zehnten Gesang der Homer’schen Odyssee, in dem Odysseus mit seinen Gefährten auf der Insel der Zauberin Kirke gelandet ist. Nach einem Gastmahl werden Odysseus’ Kumpane als Strafe für ihre Gier und Fleischeslust in Schweine verwandelt.

Es sind also zwei "Männerdienstreisen", die für Jelineks in der ersten Welle der Pandemie geschriebenes Stück herhalten müssen. Den moralisierenden Unterton dieser Verknüpfung schlachtet Regisseurin Karin Beier weidlich aus. Während die Pandemie arm an mediengerechten Bildern blieb, setzt sich die Regisseurin auf jene drauf, in denen "das menschliche Ich nicht einmal Herr im eigenen Haus ist", um mit Freud zu sprechen. Menschen sind Tiere und Tiere nicht ganz unbeteiligt an dieser Pandemie.

Penetrierbare Löcher

In jeder aufgeblasenen Latexpuppe findet das achtköpfige Ensemble ein penetrierbares Loch, Schweinehälften werden mit Spaghetti ausgestopft, während die Kirke der sich wie eine Schlange windenden Eva Mattes die Gefährten von Odysseus (Ernst Stötzner, darunter Lars Rudolph) bezirzt. Man stimmt einen "Atem-Song" an, aus Amazon-Boxen werden Minisalami ins Publikum geworfen. Und am Ende hebt Julia Wieninger zu einem tollen Monolog an.

Das hat Witz und ist mitunter durchaus bildmächtig. So wirklich abheben will der Abend aber nicht. Genauso wie die letzten 15 Monate weniger intellektuelle Luftsprünge als dumpfes Stimmengewirr hervorgebracht haben, erschöpft sich Lärm in der Verstärkung der Vielstimmigkeit einer Gegenwart, deren Übereinkünfte außer Kraft gesetzt wurden.

Stärkere Metaebene

In der Beschreibung dieses Sachverhalts war Elfriede Jelinek schon immer einsame Meisterin. Jetzt, wo das Theater aber wieder Deutungserklärungen liefern könnte, ertappt man sich, dass man sich von der Wiener Literaturnobelpreisträgerin eine stärkere Metaebene, mehr Deutungsangebote erwartet hätte.

Im September wird Regieberserker Frank Castorf am Wiener Akademietheater Lärm in seine Mangel nehmen. Vielleicht tut ein größerer Abstand zu Corona gut. Noch ist ja alles frisch, noch stecken wir mit Haut und Haar in diesem aufgewühlten Sumpf aus Rechthaberei und Besserwisserei fest. Aber hoffentlich nicht mehr allzu lange.
(Stephan Hilpold, 6.6.2021)