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Der Rio Grande bei Roma wird nachts für viele Menschen aus Zentralamerika zum Tor in die USA.

Foto: REUTERS/Adrees Latif

Der Abend ist lau, die Hitze des Tages vergessen, über den Fluss weht eine erfrischende Brise. Im Wasser spiegeln sich die Lichter von der anderen Seite, Lampen einer Uferpromenade. Aus dem Garten eines Restaurant rieseln mexikanische Liebeslieder herüber, man hört Hundegebell, spielende Kinder, einen Autoanlasser, der leer dreht, ohne den Motor zu starten. Höchstens sechzig Meter ist der Rio Grande an dieser Stelle breit, eher ein seichtes Flüsschen als ein reißender Strom.

Zwischen Schilfbüscheln hockt auf übereinandergestapelten Sandsäcken ein Mann, der auf den ersten Blick an einen Angler denken lässt – nur dass er eine gescheckte Uniform trägt und Soldat der Nationalgarde ist. Er wurde an den Rio Grande beordert, um die Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko zu überwachen und der Border Patrol, der überforderten Grenzpolizei, zur Seite zu stehen. Ein zweiter Gardist lehnt an einem Geländewagen.

Keine hundert Meter dahinter das nächste Duo, auf dem Dach eines Humvee, im Augenblick genauso gelangweilt wie die beiden ganz vorn am Fluss. Nach langem Warten, nachts gegen zwei, sind in der Ferne Paddelschläge zu hören. Dann weitere. Fährt man hinauf zu einer Aussichtsplattform auf den Klippen, auf denen die ältesten Villen der Stadt Roma thronen, sieht man im Mondlicht irgendwann dunkle Schatten, die aus einem Schlauchboot ans Ufer springen und im Gestrüpp verschwinden.

Der Sheriff, der am nächsten Tag die Lage skizziert, erzählt von jungen Männern, die meist dann übersetzen, wenn sie glauben, dass die Müdigkeit den Grenzwachen die Aufmerksamkeit raubt. Ihr Ziel seien Häuser irgendwo in Roma, in denen sie unterkommen, bevor die Schleuser sie abholen, um sie ins texanische Hinterland zu bringen, nach San Antonio, Houston, Dallas.

"Stash houses"

"To stash" heißt, etwas zu verstauen, zu bunkern. Eine Ware. In diesem Fall sind die Menschen gemeint, die tagelang in Quartieren hausen, die von den Schlepperbanden angemietet wurden. Sechzig, siebzig, bis zu achtzig Menschen in einem Haus, so müsse man sich das vorstellen, sagt die Journalistin Dina Garcia-Pena.

Dina Garcia-Pena, eine Journalistin, die ein eigenes digitales Wochenblatt produziert, auf den Klippen über dem Rio Grande in Roma, Texas.
Foto: Herrmann

Dina Garcia-Pena hat ein Wochenblatt gegründet, rein digital, "El Tejano", zweisprachig, englisch und spanisch. Sie kennt die Statistik des anschwellenden Migrantenstroms. 178.622 illegal Eingewanderte hat die Border Patrol in diesem April an der Grenze festgenommen, drei Prozent mehr als im März. Und im März waren es fünfmal mehr als im März 2020 gewesen, als die Pandemie auch die USA mit voller Wucht erreichte. Die meisten dieser Menschen stammen aus Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua, einige auch aus Mexiko. Die Schlepper, nach den wilden Wüstenhunden Coyotes genannt, teilen sie in Gruppen ein. Die einen sind Llegadas. Llegada bedeutet Ankunft, Llegadas sollen sich verstecken, weil sie im Schnellverfahren über die Brücken nach Mexiko abgeschoben werden, wenn die Border Patrol sie erwischt.

Die anderen, die Entregas, laufen direkt auf die Grenzpolizisten zu, froh über die Festnahme, das Ende ihrer Odyssee. Entrega heißt Lieferung. Entregas sind Familien mit Kindern oder auch nur ein Elternteil mit einem Kind, die unter dem Präsidenten Joe Biden in den USA bleiben dürfen, bis ein Gericht über ihren Asylantrag entscheidet. Donald Trump hatte Mütter und Väter an der Grenze von ihren Kindern getrennt, in der Hoffnung auf einen Abschreckungseffekt. Und wer um Asyl bitten wollte, musste dies in Mexiko tun. Biden hat die schärfsten Regeln seines Vorgängers zurückgenommen. Auch das hat zu dem Ansturm beigetragen – neben verheerenden Wirbelstürmen in Zentralamerika, neben gewachsener Not, neben dem Gefühl, dass sich daheim nichts zum Besseren wendet.

Plastikbänder im Schlamm

In Roma ist es relativ leicht, den Rio Grande zu überqueren. In der Nähe der Klippen liegt eine Insel im Fluss, von dort sind es vielleicht zwanzig Meter zu dem einen wie dem anderen Ufer. Am US-amerikanischen kleben noch die Plastikbänder im lehmigen Schlamm, blassgrüne Bänder, die sich Migranten der Kategorie Entregas von den Handgelenken reißen, sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Auch Carmen, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will, kam im Boot über den Fluss. Die zierliche Frau stammt aus Nicaragua, aus Chinandega. Vier Wochen war sie unterwegs, mal in Bussen, mal zu Fuß, ehe sie den Rio Grande erreichte. An ihrer Seite Javier, der 16-jährige Sohn, ihr Ältester. Der Jüngere, Franklin (14), blieb in der Obhut ihrer Eltern in Chinandega zurück. Ein in Miami lebender Neffe, erzählt Carmen, habe die Schleuser bezahlt. Sechstausend Dollar für sie, sechstausend für Javier. Für Franklin habe das Geld nicht gereicht. "Ich werde ihn nachholen, sobald ich die Summe beisammenhabe", sagt seine Mutter, dann bricht ihre Stimme.

Aus Nicaragua, sagt sie, als sie wieder reden kann, sei sie wegen des Präsidenten geflohen, wegen Daniel Ortega, der die Korruption derart wuchern lasse, dass sie für ihre Söhne in dem Land keine Perspektive mehr sehe. Ihr Mann, erzählt sie noch, sei an einer Lungenentzündung gestorben. Nach seinem Tod habe sie beschlossen, sich auf den Weg zu machen. Ihr Neffe, Koch in einem Lokal, werde ihr sicher zu einem Job verhelfen, vielleicht als Hilfskraft in seiner Küche. Auch Javier will sich sofort um Arbeit bemühen. "Ob und wie ich die Schule zu Ende bringe, darüber mache ich mir später Gedanken."

Gespendete Jeans und gekochtes Huhn

Sechs Tage haben die beiden in einem zum Auffanglager umfunktionierten Billighotel verbracht. Nachdem ihre Daten erfasst und sie negativ auf Corona getestet worden waren, ging es weiter in eine Notunterkunft, die eine kirchliche Hilfsorganisation namens Catholic Charities in der Grenzstadt McAllen betreibt. Der Neffe wurde verständigt, er buchte die Tickets für die Greyhound-Fernbusse, die Carmen und ihren Sohn nach Miami bringen.

Carmens Füße stecken in blütenweißen Turnschuhen, Javier trägt Jeans, die etwas zu weit für ihn sind. Spendersachen. Als die beiden für ein Gespräch vor die Tür ihres Domizils treten, treffen dort gerade drei Männer ein. Ein Pfarrer und zwei Mitglieder seiner Gemeinde, die etwas vom Kochen verstehen. 450 Portionen, Hähnchen mit Reis und Bohnen, hätten sie heute zubereitet, erzählt Scott Tidwell, der Geistliche. Mittwochs reist das Trio an, aus der Nähe von Austin, fünf Stunden ist es auf der Autobahn unterwegs, samstags geht es zurück.

Hilda Garza De Shazo sitzt an einem Beratungstisch unter den Porträts von Abraham Lincoln und Ronald Reagan, den Säulenheiligen der Republikaner. Eine elegante Dame, einst Lehrerin und Schuldirektorin, heute Lokalchefin ihrer Partei in McAllen. Ihre Vorfahren, ausnahmslos alle, stammen aus Mexiko. Dennoch verteidigt sie Trumps harte Linie in der Einwanderungspolitik.

"Biden hat die Schleusen geöffnet", schimpft sie. Er habe das falsche Signal gesetzt, als er Eltern mit Kindern grünes Licht für den illegalen Grenzübertritt gab. "Dabei werden die Kinder doch nur benutzt. Erinnern Sie sich an den Film 'Titanic'? An den reichen Schnösel, der sich ein Kind schnappt, um einen Platz im Rettungsboot zu ergattern? So läuft das auch hier." Hätte Hilda Garza De Shazo in Washington etwas zu sagen, wüsste sie, was sie täte. "Mexiko und den Zentralamerikanern den Geldhahn abdrehen, sämtliche Hilfsgelder streichen, solange sie massenhaft Migranten durchlassen."

Klage gegen Trumps Mauer

Freddy Guerra glaubt, dass der Brechstangenansatz das Problem nicht nur nicht lösen, sondern es noch verschlimmern würde. "Je prekärer die Lage, desto größer der Flüchtlingsstrom, das ist die Wahrheit." Guerras Büro liegt in der Altstadt von Roma, umgeben von kleinen Palästen, deren Fassaden in Pastellfarben leuchten, Rosa, Ockergelb und Himmelblau. Guerra, de facto der Cheforganisator im Rathaus, hat gegen Trumps Mauerpläne geklagt. Die Bundesregierung beanspruchte Grundstücke am Fluss, die entweder der Stadt oder Privatleuten gehörten, um darauf einen neun Meter hohen Stahlzaun zu errichten. In solchen Fällen, das war Guerra von vornherein klar, gewinnt am Ende immer der Staat. Vor Gericht sind sie dennoch gezogen, um sich beim Verkauf nicht zu billig abspeisen zu lassen. Die Entwürfe für den Zaun lagen fertig in den Schubladen, die Aufträge waren vergeben: "Säße Trump heute noch im Oval Office, wären längst die Bagger am Werk."

Biden legte die Pläne auf Eis. Allerdings, so Guerra, habe er bisher nicht gesagt, dass er definitiv auf den Mauerbau verzichte. Verfahren, in denen der Staat den Grundstückserwerb durchsetzen will, laufen weiter. "Alles hängt in der Schwebe", fasst Guerra die Lage zusammen und erklärt, warum eine künstliche Barriere am Kern des Problems nichts ändern würde. Asylsuchende hätten nach der Flussüberquerung so oder so US-amerikanischen Boden erreicht. Die Patrouillen müssten sich auch dann um sie kümmern, wenn ihnen ein neun Meter hohes Hindernis den Weg versperre.

Drogenkartelle am Werk

Um zu zeigen, wie komplex die Realität ist, fährt Dina Garcia-Pena zu einem Landschaftspark am Fluss. Stromschnellen, Reiher mit schneeweißem Gefieder, Picknickbänke zwischen Mesquite-Bäumen. Der Besitzer des Areals nimmt pro Person zwei Dollar Eintritt. "Das Hauptgeschäft beginnt wohl nach Sonnenuntergang, wenn hier keiner mehr Zutritt hat", vermutet Garcia-Pena. Drogenkartelle steuerten das Idyll gezielt an und zahlten dafür einen Obolus, sicher mehr als nur ein paar Dollar. "Überhaupt, die Kartelle. Sie haben ihre Finger in jedem Teig. Lokalpolitiker lassen sich von ihnen schmieren, weil sie Geld für den Wahlkampf brauchen, wenn sie ein Wahlamt anstreben." Der Schmuggel, ob von Menschen oder Rauschgift, will die Reporterin deutlich machen, ist ein grenzübergreifendes Geschäft, ein überaus lukratives.

Zum komplizierten Befund gehört auch dies: Im November holte Trump im Starr County, dem Landkreis, in dem Roma liegt, 47 Prozent der Stimmen, nachdem er 2016 im Duell mit Hillary Clinton gerade mal auf 28 Prozent gekommen war. Und das, obwohl neun von zehn Bewohnern Latinos sind, deren Vorfahren aus dem Süden stammen. So wie Dina und Jorge, ihr vor zwanzig Jahren illegal eingewanderter Ehemann. Die Gründe für die Flucht verstehe sie nur zu gut, betont Dina Garcia-Pena. Aber manchmal kämen vierhundert Migranten in einer Gruppe. "Da fragen die Leute, Moment mal, hat das überhaupt noch jemand im Griff?"

Pater Snipes samt Hundeschar.
Foto: Herrmann

Roy Snipes läuft mit Cowboyhut über eine Wiese zu seiner Morgenandacht. Wenn er predigt, liegen Bendito, Charlotte und Wiglet, drei von ihm gerettete Hunde, vor dem Altar der kleinen Kapelle La Lomita. Bis zum Rio Grande sind es nur ein paar hundert Meter, und wäre es nach Trump gegangen, läge La Lomita heute hinter einem Zaun aus Stahl. Abgeschnitten von der Kleinstadt Mission, deren südliches Ende das Gotteshaus bildet. Praktisch im Niemandsland.

Allein schon symbolisch, sagt der Pater, hätte das Stahlmonster allem widersprochen, was Amerika mit der Freiheitsstatue vor New York doch eigentlich sein wolle. "Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren", zitiert er die Worte, die auf dem Sockel von Lady Liberty stehen. "Und was sagt die Mauer? Dass wir es geschafft haben und von Habenichtsen nicht belästigt werden wollen. Als würde der fette, erfolgreiche, wohlhabende Mann sagen: Ich habe es verdient, fett, erfolgreich und wohlhabend zu sein. Und der arme Schlucker, der ums Überleben kämpft, der geht mich nichts an."

Pater Roy kann sich richtig in Rage reden, wenn er unter einem Bild seines Idols John Wayne in seinem Büro sitzt und die Trump-Jahre Revue passieren lasst. Der Mann, hört er noch heute, auch von Leuten, die seine Gottesdienste besuchen, sei ein sehr guter Arzt. Schreckliche Manieren, aber die richtigen Rezepte. "Na, ich weiß nicht", sagt Snipes. "Ich glaube immer, das Licht ist stärker als die Finsternis. Aber manchmal muss man sich wundern." (Frank Herrmann aus Roma, Texas, 8.6.2021)