"Irgendwann auf dem Weg hinauf zur Taghaubenscharte musste ich stehen bleiben und den Kopf in den Schnee stecken."

Collage: Teresa Präauer

Jeder Aufbruch benötigt wohl einen Bruch, der vorangeht: mit den alten Gewohnheiten, mit der Trägheit, mit dem Niedergang, der Depression, der Krise. Wenn der Tag anbricht, lassen wir die Nacht hinter uns, die Bettruhe ist zu Ende.

In Walter Benjamins so lesenswerten Erinnerungen an seine Berliner Kindheit um neunzehnhundert findet sich ein Textfragment mit dem Titel Abreise und Rückkehr, das mit folgendem Satz anfängt: "Der Lichtstreif unter der Schlafzimmertür, am Vorabend, wenn die andern noch auf waren, – war er nicht das erste Reisesignal?"

Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich wieder einmal einen Aufbruch vor mir hatte, nämlich den zu einer Skitour mit Phillip und Erich auf die Taghaubenscharte. Man startet den Aufstieg in Dienten am Hochkönig bei der Erichhütte. Und Erich hatten wir auch halbwegs früh am Morgen in Salzburg-Stadt aufgelesen, um gemeinsam mit dem Auto etwa eine Stunde Richtung Süden zu fahren.

Laut und deutlich

Es ist übrigens schön, das Wort Aufbruch laut auszusprechen. Während man Auf- sagt, öffnet sich der Mund zuerst weit, um sich für das windige Pusten des F-Lauts langsam wieder zusammenzuziehen. Für den sogenannten Plosiv, nämlich das B, schließen sich die Lippen dann ganz. Hier macht das Wort eine Art von Knick, es kippt. Als würde es zwischen F und B seine Talsohle erreicht haben, um sich mit dem hinausgeschleuderten R im Wort Bruch dann geschwind wieder Richtung Berg aufzumachen. Das CH am Wortende ist auch ein viel stärkerer Wind, ein Aufwind, ein Rückenwind: einer, der uns antreibt.

Die Sonne brannte – es war beinah schon Ostern – ziemlich heiß auf die Taghaubenscharte herunter, und meine neuen Ski samt Bindung mussten mit dem Schraubenzieher nachjustiert werden. Endlich machten wir uns an den Aufstieg.

Ich dachte an all die Fahrten durch tiefen Schnee, die ich in meiner Jugend unternommen hatte, an manchen Irrweg und an manches Schleichwegerl, das mich schneller zum Ziel geführt hatte, auf eine bucklige Piste, die eine lustige Abfahrt versprach.

Ich fühlte mich auch diesmal stark genug und wollte mir zudem vor den Männern keine Blöße geben – doch die Hitze, der schwere Rucksack, die mittlerweile fehlende Übung und schwächere sportliche Kondition ließen mich bald langsamer werden.

Charmante Lügen

Irgendwann auf dem Weg hinauf zur Taghaubenscharte musste ich stehen bleiben und den Kopf in den Schnee stecken. Ich war an meiner ganz persönlichen Talsohle des Tages angekommen. Fff, verfing sich der viel zu milde Frühlingswind in meinem nassgeschwitzen Haar, anstatt mir den Rücken zu stärken und mir einen Anstoß zu geben, den freundlichen Stupser, den ich benötigt hätte.

Fff, pfiff der Gegenwind gehässig durch meine Gedanken. Plötzlich war das Scheitern am Aufstieg auf die Taghaubenscharte mit den Erinnerungen an ein allgemeineres Scheitern hie und da im Leben geknüpft. Wie gemein die Erschöpfung doch ist, dass sie sich dafür noch die Kraft stiehlt!

Eine Wolke zog über den Himmel und spendete so etwas Schatten. Gerade als ich sehr müde wurde, hörte ich da ein leises Knacken. Brrr! Etwas brach weg, diskret wie die oberste Schicht von altem Schnee. Der Ski war nicht viel talwärts gerutscht.

Ich musste mich aufrichten, den Kopf wieder hochrecken, die Körperspannung erneut einnehmen. Das ganz zarte Einbrechen im Schnee, die bloß geringe Gefahr, abzugleiten, hatten mich nun doch aufgeschreckt. Es war dies das zweite Reisesignal des Tages. Dazu gesellte sich jetzt ein Lichtstreif unter der Baumgrenze dort oben. Ja, auf einmal lag unser Ziel wieder deutlich vor uns wie eine von weißem Laser exakt markierte Linie. Die andern waren noch auf, ja, Phillip und Erich riefen zum Aufbruch, diesmal sanfter und gespielt zurückhaltend. Sie ließen mich vorgehen, und sie erzählten mir allerlei charmante Lügen, wie erschöpft sie bereits seien und wie wenig imstande, unseren Weg noch fortzusetzen. Im Gegensatz zu mir, die ich den Berg wahrhaft hocheilen würde und mir um Himmels willen Zeit lassen solle. Ich lachte und glaubte ihnen die Lügen gern. Aufbruch, trompetete ich, nun wieder übermütig, Aufbruch! (Teresa Präauer, RONDO exklusiv, 4.7.2021)