Die spektakulären Tauchgänge Sylvia Earles brachten der Meeresbilogin den Spitznamen "Her Deepness" ein.

Foto: Courtesy of Phil Nuyeten

Manche Exemplare des Granatbarschs, der in tiefen Regionen des Atlantiks und des Pazifiks lebt, werden an die 200 Jahre alt. Früher wurde er Schleimkopf genannt, das Tier ist wahrlich keine Schönheit. Doch sein köstliches Fleisch bescherte ihm eine Karriere als Delikatesse in Gourmetrestaurants. Was in Kombination mit seiner späten Geschlechtsreife – erst mit 30 Jahren ist es so weit – den Beständen zusetzt und Schutzmaßnahmen nötig macht.

Die Meeresbiologin Sylvia Earle bringt in ihren Vorträgen den Granatbarsch mit seinem hohen Lebensalter als anschauliches Beispiel dafür, mit welcher Geschwindigkeit die Zerstörung der Meere vor sich geht. In die Lebensspanne eines mittelalterlichen Granatbarschs, der Anfang des 20. Jahrhunderts geboren wurde, fallen die Entwicklung der Erdölwirtschaft, der Aufbau der Kunststoffindustrie, die Entwicklung des Meerestourismus, die Industrialisierung der Fischerei und die ersten drastischen Zeichen des Klimawandels – etwa das Absterben von Korallenriffen.

Hope Spots

Die heute 85-jährige Earle sagt, dass es in den Anfängen ihrer Karriere niemand für möglich gehalten habe, dass menschliche Aktivität den Meeren etwas anhaben könnte. Mit ihren vielen Tausenden Stunden unter Wasser wurde ihr bewusst, wie stark der menschliche Einfluss ist und wie unbekannt die Meere dennoch bleiben. "Wir wissen, dass die Hälfte der Korallenriffe, der Tangwälder, der Mangroven, der Seemarschen weg sind und dass etwa 90 Prozent vieler wildlebender Fischbestände verschwunden oder von starken Rückgängen betroffen sind", sagt Earle im E-Mail-Interview. "Und nach wie vor sind 90 Prozent der Ozeane unerforscht. Sie sind nicht einmal mit derselben Genauigkeit kartografiert wie der Mond, der Mars oder Jupiter."

Earles lebenslanges Engagement mündete vor mehr als zehn Jahren in die Gründung von Mission Blue, einer Non-Profit-Organisation, die ein ganzes Netzwerk von Naturschutzzonen – genannt "Hope Spots" – rund um den Globus aufbaut. "Ein Hope Spot kann ein Ort sein, der noch in gutem Zustand ist, oder einer, der bereits Schaden davongetragen hat, aber mit der Zeit wiederhergestellt werden kann", sagt Earle.

Die Meeresbiologin Sylvia Earle beim Testen eines Panzertauchanzugs im Jahr 1979. Wenig später stellte sie mit einem Tauchgang in 381 Meter Tiefe einen Weltrekord auf.
Foto: Al Giddings

Die Orte liegen in der Nähe der Küsten der Galapagos-Inseln, Schottlands oder Französisch-Polynesiens. Auch die Meere rund um Mallorca wurden zu einem der insgesamt 127 Gebiete, für deren Erhaltung lobbyiert wird. Die Seegrasfelder rund um die Balearen wurden bereits 1999 zum Unesco-Welterbe. Das Gebiet ist ein Laichgrund für Blauflossen-Thunfische und der einzige Nistplatz für den Balearen-Sturmtaucher, von dem nur noch wenige Brutpaare vorhanden sind. Größter Negativeinfluss ist hier – wie vielerorts im Mittelmeer – die Überfischung.

Ökotourismus

Bereits 30 Forschungsexpeditionen zu den Hope Spots wurden von Mission Blue absolviert. Man arbeitet mit lokalen Communitys, fördert etwa Ökotourismus. Das griffige Ziel: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Meere unter Schutz stehen. Die Ozeane sollen nicht schlechter behandelt werden als das Festland, wo die Notwendigkeit von Naturreservaten eher auf offene Ohren stößt.

Earle konnte ein Netzwerk von bisher 200 Organisationen knüpfen, um Bewusstsein für ihre Sache zu schaffen. Mit Google machte sie Unterwasserlandschaften zum Teil des Kartendienstes Google Earth. Seit Jahrzehnten arbeitet sie mit National Geographic oder auch dem Uhrenhersteller Rolex zusammen, dessen Markenbotschafterin sie ist. Ein weiteres Sprachrohr fand sie im Streamingdienst Netflix, mit dem 2014 die Filmdoku Mission Blue über Earles Leben gedreht wurde. "Ich versuche noch immer auf Wegen zu kommunizieren, die jedem zugänglich sind", betont Earle.

Ein Adlerrochen folgt einem Schwarm von Schappern. Er wird von der Weltnaturschutzorganisation als gefährdet eingestuft.
Foto: Nonie Silver

Ihre unerschütterliche Verbundenheit zur Unterwasserwelt manifestierte sich bereits früh. Als Heranwachsende in Florida war der Golf von Mexiko ihre Spielwiese. Noch als Studentin nahm sie als einzige Frau an einer sechswöchigen Expedition in den Indischen Ozean teil – die Tauchgänge in jedem neuen Gebiet waren damals Ersterkundungen. "Jedes Mal wurde etwas zutage gefördert, was ein Mensch noch nie davor gesehen hatte", blickt ¬Earle zurück. Ihre Seegrasbibliothek, die den Ausgang in ihrer Doktorarbeit hatte, spendete sie später an ein Smithonian-Institut.

1970 war sie Teil einer Crew des Unterwasserlabors Tektite II, der nur Frauen angehörten – eine Erfahrung, die sie nicht nur zur Medienfigur machte, sondern auch ihren Zugang zur Meeresfauna verändern sollte. "Ich entdeckte, dass auch Fische Individuen sind. Jedes Tier ist einzigartig. Ich lernte einzelne Exemplare kennen, erkannte ihre Gesichter wieder", sagt Earle. "Das veränderte mich. Ich hörte zum Beispiel auf, Fisch zu essen." Die Wissenschafterin wurde zur Pionierin beim Tauchen in großen Tiefen und in der Anwendung von Unterwassersystemen. Sie hält bis heute Weltrekorde in diesem Bereich.

Die heute 85-jährige Sylvia Earle konnte ein Netzwerk von mehr als 200 Organisationen knüpfen,
die sich für den Schutz der Meere einsetzen.
Foto: Rolex/Stefan Walter

Ölpest um Ölpest

Auch in den Desastern, die die Meereswelt treffen kann, hat sie Expertise. Als erste Frau an der Spitze der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) in den USA beschäftigte sie sich bis 1992 mit den Ölpestfolgen nach dem Golfkrieg und nach den Tankerunfällen der Exxon Valdez und der Mega Borg. Als mit dem katastrophalen Unfall auf der Ölplattform Deepwater Horizon 2010 ihre ehemalige "Spielwiese" zerstört wurde, holte man sie als Beraterin.

Unermüdlich weist Earle darauf hin, dass das Schicksal der gesamten Menschheit von jenem der Ozeane abhängt, die Wetter, Klima, den Chemiehaushalt des Planeten steuern. Immerhin: Earle selbst sieht die Sache noch nicht verloren. "Es gibt positive Veränderungen", sagt sie. "Wal- und Schildkrötenbestände sind heute höher als in meiner Kindheit, weil viele Staaten Schutzmaßnahmen ergriffen haben. Wo es Schutz gibt, erholt sich die Natur wieder." (Alois Pumhösel, 11.6.2021)