Ein Jahr ist vergangen, seitdem der Afroamerikaner George Floyd von einem weißen Polizisten getötet wurde, und dieser Mord hat auch für den amerikanischen Journalismus fundamentale Fragen aufgeworfen: Wie werden Schwarze und andere Minderheiten in den Medien dargestellt? Warum sind afroamerikanische Journalistinnen und Journalisten in den Redaktionen so unterrepräsentiert? Wie lassen sich systemischer Rassismus und strukturelle Polizeigewalt angemessen journalistisch darstellen?

Was all diesen Fragen zugrunde liegt, ist die Skepsis, dass tradierte journalistische Normen, Praktiken und Rollenbilder nicht mehr ausreichen, um die komplexe Wirklichkeit der Ungleichheit zwischen weißen und schwarzen Menschen in den USA adäquat darzustellen. Und besonders umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob journalistische Objektivität als professionelles Leitbild überhaupt noch zielführend ist.

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Ist journalistische Objektivität als Leitbild noch zielführend?
Foto: AP/Morry Gash

"Kein journalistischer Prozess ist objektiv"

Angestoßen wurde diese Debatte unter anderem von Wesley Lowery, einem zweifachen Pulitzer-Preisträger. Amerikanischer Mainstream-Journalismus berufe sich zwar immer auf Objektivität als ein professionelles Leitbild, schrieb er in einem Gastbeitrag für die "New York Times", doch tatsächlich werde diese objektive Wahrheit ausschließlich von weißen Journalisten und ihren meist weißen Chefs entschieden. Neutraler, "objektiver Journalismus" sei das Resultat vieler subjektiver Entscheidungen hinsichtlich dessen, was berichtet wird, wer interviewt wird und welche Informationen beiseitegelassen werden. "Kein journalistischer Prozess ist objektiv", schrieb Lowery. "Und kein einzelner Journalist ist objektiv, weil kein einzelner Mensch objektiv ist."

Lowerys Kritik fand ein starkes Echo bei anderen Journalistinnen und Journalisten. Objektivität im Sinne von professioneller Distanz zu den Leuten, über die man berichtet, sei ein Privileg von weißen Journalisten, schrieb etwa die Kanadierin Pacinthe Mattar. Weiters erläuterte sie: "Für weiße Journalisten ist Distanz ein Teil ihrer Lebenswirklichkeit. Aber für alle anderen gibt es keine Distanz zwischen dem, was Georg Floyd passierte, und ihrem eigenen Leben. Distanz ist ein Luxus."

Subjektivität ist keine Alternative

Diese Abrechnung mit Objektivität als journalistischer Leitidee blieb nicht unwidersprochen. Tom Rosenstiel, der Direktor des American Press Institute und Co-Autor der Journalistenbibel "The Elements of Journalism", zeigte zwar Verständnis für Lowerys Unbehagen, entgegnete allerdings, dass Subjektivität keine Alternative darstelle. "Wenn wir Subjektivität mit Wahrheit gleichsetzen, schaden wir einem bereits geschwächten Berufsstand zu einem kritischen Zeitpunkt", schrieb Rosenstiel auf Twitter.

Auch das journalistische Establishment zeigte sich vom Rütteln an der gängigen journalistischen Praxis wenig angetan. Dean Baquet, der erste Afroamerikaner in der Position des Chefredakteurs der "New York Times", äußerte in einem Podcast-Interview zwar Verständnis für Lowery, sprach sich aber dennoch dagegen aus, einzelne Aspekte von Objektivität wie Fairness oder Unabhängigkeit zugunsten von mehr Parteinahme fallenzulassen. "Das Ziel jedes Zeitungsartikels muss es sein, die Nachrichten so vollständig wie möglich darzustellen", sagte er, "mit so viel Präzision wie möglich, sodass jede Perspektive, jede zugrunde liegende Motivation und jeder wichtige Aspekt widergespiegelt wird."

Wertehaltung und Handlungsanleitung

Journalistische Objektivität hat vor allem in den USA einen besonderen Stellenwert. Es handelt sich hierbei um eine journalistische Norm, also eine Mischung aus Werthaltungen und Handlungsanleitungen, die seit etwa hundert Jahren etabliert ist. In diesem Sinne war Objektivität immer schon mehr eine Idealvorstellung als tatsächliche Realität, und die Journalismusforschung hat sich eingehend damit beschäftigt, die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Objektivität zu beleuchten. Dabei stellte sich schon in den 1970ern heraus, dass Objektivität im journalistischen Alltag vor allem ein "strategisches Ritual" (Gaye Tuchman) ist, das Journalistinnen und Journalisten vor allem dazu dient, den Arbeitsablauf zu standardisieren und die eigene gesellschaftliche Position abzusichern.

Weiters wurde seitens der politischen Ökonomie kritisiert, dass ein auf Gewinn ausgerichtetes Mediensystem ohne Förderung von öffentlich-rechtlichem Rundfunk immer schon ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit erzeuge, weil wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stünden. Und aus der Perspektive der politischen Kommunikation zeigte sich, dass die "objektive" Berichterstattung über politische Prozesse indirekt den Standpunkt von Regierungen und Amtsträgern bevorzugt, wenn diese die Agenda vorgeben, auf welche dann Redaktionen bloß reagieren können.

"Bearing witness"

Es ist auch nicht das erste Mal in der jüngeren amerikanischen Geschichte, dass journalistische Objektivität auf dem Prüfstand steht: Die autoritäre Ära des McCarthyism, die Propaganda des Vietnamkriegs und später der Irakfeldzug der Regierung von George W. Bush zeigten immer wieder die Grenzen von journalistischer Autonomie auf, führten dann allerdings auch zu einer kollektiven Gewissensprüfung.

Es ist also davon auszugehen, dass journalistische Normen, Praktiken und Rollenbilder sich jetzt wieder weiterentwickeln. In welche Richtung es gehen könnte, zeigt etwa die Arbeit von Alissa Richardson, einer Professorin an der University of Southern California. Als neuen Leitbegriff schlägt sie "bearing witness" (Zeugnis ablegen, bezeugen) vor. Sie will damit zum Ausdruck bringen, dass es in Fragen von Bürgerrechten keine Neutralität geben sollte und dass Journalistinnen und Journalisten ihre investigativen Fertigkeiten einsetzen sollten, um diesen Bürgerrechten zum Durchbruch zu verhelfen. (Thomas Schmidt, 9.6.2021)