Dieses Fahrwerk ist der nackte Wahnsinn. Es hilft nichts, bei dem Dutzend an möglichen, auch originelleren Einstiegen, die mir durch den Kopf gehen während dieser Ausfahrt: Es kann nur einen geben. Wieder einmal bestätigt sich: Grau ist alle Theorie, farbig die direkte Anschauung.

Rolls-Royce spielt in einer eigenen Liga, das gilt schon für die "Einstiegslimousine", den Ghost. An dem ist alles neu, auch die – Weltpremiere – elektrischen Türen.
Foto: Rolls-Royce

Anschauungsobjekt ist der neue Ghost, Rolls-Royce hatte ihn extra für ein paar Tage nach Wien gebracht und sich gegenüber der Albertina – Kultur trifft Kultiviertheit – eine Start-Ziel-Operationszentrale eingerichtet, im Guesthouse. Dort setzen wir uns erst einmal auf eine Espressolänge zum Herrn Jürgen Borhauer, der sympathische Bursche platzt schier vor Wissen, davon kann man nur profitieren, aber damit gleich wieder zum Fahreindruck.

Foto: Rolls-Royce

Zunächst einmal pirscht sich der Ghost, nomen est omen, so leise an, dass du weder Dürers Feldhasen in der Albertina nebenan aufschrecken kannst noch ein Reh in freier Wildbahn. Den Sacher-Torten-Drive-in lassen wir links liegen, die erwarten dort Ferraris vom STANDARD, der Rolls-Royce würde womöglich Verwirrung stiften. Nein, wir streben, nach Abwischen der Majestätsbeleidigung Taubenschiss von der Frontscheibe und kleinem Zwischenstopp in der Redaktionsgarage zwecks Begutachtung des indirekt LED-beleuchteten Kühlergrills ("Thorben, komm mal runter!"), sogleich in die freie Wildbahn: Semmering und die herrliche Ritter-von-Ghega-Gedächtnisstrecke (wie wir sie nennen) rüber nach Reichenau. Um das noble Schwergewicht auch auf Kurvenverhalten zu befragen.

Zehn Jahre tüfteln

Auf der ganzen Strecke, Stadt, Autobahn, Landstraße, zeigt sich: Dieses Fahrwerk bügelt alles weg. Der Verdacht drängt sich auf: Die Welt ist flach. Kopfsteinpflaster? Welches Kopfsteinpflaster? Spurrillen? Welche Spurrillen? Schlaglöcher? Welche Schlaglöcher? Da begreift man, warum die Ingenieure zehn Jahre lang an diesem Wunderfahrwerk entwickelt haben – eine der Informationen, die wir vom Espresso-Introitus mitnehmen konnten.

Foto: Rolls-Royce

In Kurven gilt: Die Masse heischt Respekt, die Größe nicht. 2,5 Tonnen sind 2,5 Tonnen, damit liegt der Ghost auf dem Niveau von diesen neuen großen Elektromobilen. Aber die 5,55 Meter Länge, knapp neun Zentimeter mehr als bisher, die merkt man kaum – weil, Sie vermuten richtig: Allradlenkung. Agil und wendig, haben wir in den Notizblock gekritzelt. Kein Wanken beim Bremsen, kein Aufschaukeln beim Beschleunigen. 50:50-Achslastbalance, die sich einem Quasi-Frontmittelmotorkonzept verdankt. Aber ha!, war da nicht gerade ein leises Knarzen in der Fahrertür? Die bei Rolls-Royce kochen also auch nur mit Wasser. Wie beruhigend.

Problemlos erschließt sich die vornehme Terminologie des Herstellers, der das Flaggschiff Phantom tendenziell als Chauffeurs-, den kleineren Ghost als Selbstfahrlimousine ausweist. Dieses Auto ist kein Raserinnenmobil, kein Rennsportgerät, sondern bietet Fahren auf allerhöchstem Genussniveau.

Innen herrscht der pure Luxus, was denn sonst.
Foto: Rolls-Royce

Technisch liege das, so Borhauer noch einmal bei Rückgabe des Fahrzeugs, an dem neuartigen "Planar"-Federungssystem, planar wie Ebene, siehe flache Welt, wir hatten schon den richtigen Riecher. Die Communauté scientifique darf staunen: Vorne sitzt eine luftgefederte Querlenker-Dämpfereinheit über der Aufhängung, laut Hersteller eine Premiere im Automobilbau, hinten kommt eine ebenso luftgefederte Fünflenker-Hinterachse zum Einsatz, und das System ist weise und vorausschauend: Die Stereokamera achtet mit Argusaugen auf das, was da kommt und konditioniert die Federung schon vor. Mercedes hatte 2013 was Ähnliches in der S-Klasse eingeführt, "Magic Body Control", aber da liegen acht Jahre dazwischen, eine kleine Ewigkeit angesichts der rasanten technischen Entwicklung.

Betulicher, wenngleich prunkvoll geht es zu in der Welt der Materialien, unter Anwendung von in Jahrhunderten erarbeitetem abendländischem Kunsthandwerk. Mit Leder von glücklichen Kühen, ohne jeden Mückenstich. Edlen Hölzern, von bei abnehmendem Mond während der Saftruhe gefällten Bäumen. Mit Flauschteppichen aus Wolle von beim Abspielen von Johann Sebastian Bachs Air geschorenen Merinoschafen. Metallen, geschmolzen bei sanftem Temperaturanstieg. Und mit einem Spirit of Ecstasy, vor der Endmontage vom Meister persönlich geküsst. So mag man sich das vorstellen, wenn der Blick über dieses Gesamtkunstwerk von Innenraum schwebt und schweift und schwelgt.

Beim Antrieb überspringt Rolls-Royce das Kapitel Plug-in-Hybrid, auf den Verbrenner folgt sogleich der rein elektrische Antrieb. Bis dahin ist es noch ein Weilchen, im Ghost versieht der 6,75-Liter-V12 einen Kulturauftrag.
Foto: Rolls-Royce

Der Ghost ist derart neu, dass er mit dem Vorgänger nur zweierlei gemein hat: besagten Kühlerschmuck sowie, hilfreich bei diesem verwaschelten spätwinterlichen Klimaerwärmungsmai, die Regenschirme. Und keine Ahnung, warum sich bei Ansichtigwerden eines Rolls-Royce-Giebelgrills bei mir im Hirn immer ein Schalter umlegt und automatisch altes Schulwissen herunterrattert, griechische Tempelordnung: Antentempel, Doppelantentempel, Prostylos, Amphiprostylos, Pseudo-Peripteros und so weiter, während doch die Welt immer profaner wird: Die Tempel sind verlassen, außer jene des Konsums. Das macht auch vor der Welt der Superreichen nicht halt: Sprang die gute Fee bisher aus dem Giebel des Kühlertempels, so tut sie das nun erstmals aus der Motorhaube.

Foto: Rolls-Royce

Darunter, aussterbende Gattung, sitzt ein V12-Triebwerk mit 6,75 Litern Hubraum und zwei Turboladern, mit ausreichend Leistung, hätte man früher gesagt, 571 PS sind es konkret. Auch dies ein Stück automobiltechnischer Hochkultur, die wohl, nimmt die Geschichte einen linearen Verlauf, mit nächster oder übernächster Generation der Vergangenheit angehört. Bekanntlich arbeitet auch Rolls-Royce an einem ersten Elektromobil.

Und was hört man vom Verbrennungsprozess, was überhaupt an Bord? Nur Dezentestes. Denn, das weiß wiederum Jürgen Borhauer, bei der Innenraumakustik sei derart hoher Aufwand betrieben worden, mit Doppelverglasung, doppeltem Boden und so fort, dass plötzlich in all der Konzerthausruhe sich die Lüftungsgeräusche in den Vordergrund gedrängt hätten. Eine neue Luftführung wurde erforderlich, jetzt passt es, passt jedes Geräuschlein, nichts blieb dem Zufall überlassen.

Foto: Rolls-Royce

Bedienung, bitte

Wer bei BMW zu Hause ist, wird sich mühelos beim Bedienkonzept zurechtfinden, das vorbildlich mit getrennter Bedien- und Sichteinheit arbeitet und nach derselben Logik wie bei den Fahrzeugen der Konzernmutter.

Was der Ghost kosten darf, wollen Sie noch wissen? Rolls-Royce nennt lediglich den Nettopreis, der liegt bei 366.650 Euro. Der Finanzminister schlägt dann noch einmal den Preis eines Premiumfahrzeugs drauf. Die Kundschaft kümmert’s kaum.

Zwar machte sich das Corona-Jahr 2020 durchaus bemerkbar, der Rekord von 2019 (5100 ausgelieferte Fahrzeuge) wurde mit 3756 Stück weit verfehlt, das war aber immer noch der sechstbeste Wert aller Zeiten, und heuer brummt der Laden wieder richtig. Im ersten Quartal fanden sich 1380 Kundinnen und Kunden, 62 Prozent mehr als 2020 und mehr als je zuvor in der 116-jährigen Geschichte. (Andreas Stockinger, 20.6.2021)