Die SPÖ braucht eine konkrete Antwort zu den Themen Asyl und Migration, sagt der Kulturwissenschafter Christoph Landerer im Gastkommentar. Internationale Solidarität allein sei keine. Er setzt damit die Debatte zur SPÖ fort. Lesen Sie dazu auch die Beiträge von Anton Pelinka und Roland Fürst.

Die SPÖ kritisierte in diesem Plakatsujet die "herzlose Politik" von ÖVP-Chef und Bundeskanzler Sebastian Kurz. Aber für wen schlägt das sozialdemokratische Herz?
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Keine Partei, die den Anspruch erhebt, eine "Volkspartei" zu sein, hat eine widerspruchsfreie Programmatik, und das kann auch gar nicht anders sein – um Mehrheiten zu erringen, müssen zu viele verschiedene Interessen integriert werden. Die ÖVP muss den Grundgegensatz zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen bewältigen; die christliche Soziallehre dient als Brückenkonstruktion, doch sie ist brüchig geworden, und unter ungünstigen politischen Vorzeichen können Interessenkonflikte jederzeit ausbrechen. Da sie keine allzu gegenläufigen ökonomischen Interessen bedienen muss, sollte die SPÖ eigentlich über günstigere Voraussetzungen verfügen. Aber auch sie ist vor ideologischen Konflikten nicht gefeit; die wahrscheinlich gefährlichste Konfliktzone verläuft seit Jahren entlang der thematischen Debattenlinien im Bereich von Asyl und Migration.

Die Kunst des Umgangs mit programmatischen Konflikten zählt zu den wesentlichsten Voraussetzungen für politischen Erfolg. Konflikte lassen sich innerparteilich austragen und klären, durch praktische Politik moderieren, durch geschicktes Agenda-Setting übertünchen. Kleinere Konflikte lassen sich aussitzen, größere werden durch dieses Verfahren zur Bedrohung. Weitet sich die Konfliktzone aus, dann ist schließlich auch die Einheit einer Partei in Gefahr. Wie tief die Gräben in der SPÖ mittlerweile verlaufen, hat zuletzt die Kontroverse zwischen Roland Fürst und Anton Pelinka aufgezeigt (siehe "Ein Versöhnungsversuch in Rot", "Sozialdemokratische Verhaiderung", DER STANDARD, 29. 5. und 1. 6. 2021).

Reine Lehre

Um den Konflikt zu verstehen, muss man seine Geschichte kennen. Anton Pelinka wünscht sich eine SPÖ, die sich als inhaltliches Gegenprogramm zur FPÖ versteht. Er vertritt damit eine sozusagen reine politische Lehre, die nach 2000 zu einer einflussreichen innerparteilichen Auffassungsschule wurde. Vor der schwarz-blauen Wende war ihr Einfluss begrenzt, die SPÖ versuchte vielmehr – zuletzt immer stärker und offener lavierend – auch mit jenen Wählern und Wählerinnen, die zur freiheitlichen Programmatik tendierten, ein Stück des Weges mitzugehen. Mittel der Wahl und Instrument der Gestaltung war das Innenministerium, das von 1970 bis 2000 durchgehend in sozialdemokratischer Hand blieb, auch während der rot-blauen Koalition 1983 bis 1986 und der großkoalitionären Kabinette Franz Vranitzky I bis V und schließlich Viktor Klima. Besetzt wurde das Ressort bevorzugt mit Vertretern des rechten Flügels der Partei – die markante Ausnahme Caspar Einem wurde nach nicht ganz zwei Jahren im Wissenschaftsressort verräumt.

Die Politik dieser Jahre war nicht durch jene Großzügigkeit gegenüber Nichtstaatsbürgern geprägt, die sich die Vertreter der späteren reinen Lehre wünschen – das war sie auch unter Bruno Kreisky nicht; die steigende Arbeitslosigkeit im Gefolge der Ölkrise 1973 wurde auf Kosten der damaligen "Fremdarbeiter" reduziert. Eine Zeitlang versuchte man die offene Überhaiderung, SPÖ-Zentralsekretär Peter Marizzi verkündete bereits 1990: "Das Boot ist voll."

Bloße Keppelei

Die Doppelstrategie der SPÖ befeuert innerparteiliche Konflikte, die sich schließlich gegen Ende der 1990er-Jahre nicht mehr in gewohnter Manier beherrschen lassen. Kronprinz und FPÖ-Verbinder Karl Schlögl kann sich innerparteilich nicht durchsetzen, die Parteiführung fällt an den Kompromisskandidaten Alfred Gusenbauer. Da die SPÖ nun nicht mehr regiert, entfällt auch die Notwendigkeit einer praktisch-politischen Bewältigung des Lagerkonflikts, man mobilisiert gegen jene, die "keine Koalition mit dem Rassismus" wollen. Der innere Konflikt wird weiter aufgeladen.

2006 schließlich gelangt die SPÖ wieder in Regierungsverantwortung, aber statt den Konflikt zu entschärfen, meldet sie sich ab. Das Innenministerium, vor 2000 das wesentliche Mittel zur Moderierung der Problemzone durch praktische Politik, überlässt sie der ÖVP, in keiner der nachfolgenden großkoalitionären Regierungen (Gusenbauer, Werner Faymann I und II und schließlich Christian Kern) kann sie hier Akzente setzen und will das auch nicht. Statt zu gestalten, wird, salopp gesagt, gekeppelt – bis schließlich die Flüchtlingskrise dem jungen Außenminister der ÖVP ungeahnte Aufmerksamkeit verschafft.

Kein Übertünchen

Das Megaereignis der Jahre 2015 und 2016 trifft die SPÖ unvorbereitet und auch ideologisch am falschen Fuß. Ihre Antworten bleiben abstrakt, Sebastian Kurz wird mit der "Schließung der Balkanroute" konkret. Auch die alte sozialdemokratische Devise der "internationalen Solidarität" bietet wenig Orientierung, denn wie wird diese umgesetzt? Durch Verteilung? Transfer in die Zielländer? Hilfe vor Ort? Die Antworten der SPÖ haben nicht die Prägnanz, die der Wähler von Kurz vermittelt bekommt.

Auch der Stern von Kurz wird sinken. Er hat die Partei hinter sich, weil er erfolgreich ist, und er ist erfolgreich, weil er die Partei hinter sich hat. Sobald diese Dynamik durchbrochen ist, werden auch in der ÖVP Konflikte ausbrechen. Um dann zu reüssieren, muss die SPÖ ihre eigenen Konflikte sortieren, die sie weder durch praktische Politik moderiert noch innerparteilich geklärt hat und die sie auch nicht durch geschicktes Agenda-Setting übertünchen kann. Sie wird sich dabei aber einen Blick auf die Realitäten bewahren müssen, und sie kann nicht zu einer Partei werden, die sie nie war. (Christoph Landerer, 8.6.2021)