Die Rede vom "Rechtsstaat" hat eine normative Dimension und zielt auf die Bewertung staatlicher Strukturen und Praktiken. So beinhalten Aussagen wie "In einem Rechtsstaat sollte so etwas nicht möglich sein" oder "Ein solches Vorgehen widerspricht allen Kriterien eines Rechtsstaats" eine Kritik an politischen Systemen, die sich zwar des Rechts bedienen, doch Standards eines ethisch angemessenen Umgangs mit dem Recht verletzen.

Die simple Tatsache, dass ein Staat über ein Rechtssystem verfügt, qualifiziert diesen noch nicht als Rechtsstaat. Denn Recht ist biegsam und passt sich auch autoritärer Machtausübung an.

Was genau macht einen "Rechtsstaat" aus? Inhaltlich ist der Begriff an das Prinzip der "Rechtsstaatlichkeit" gebunden, das Gewaltenteilung (die Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative), klar definierte Verfahren der Rechtserzeugung und Rechtsanwendung und die Unabhängigkeit der Justiz zu unabdingbaren Voraussetzungen einer guten Staatsform erklärt. Staatsformen, die diese Bedingungen nicht anerkennen oder infolge wiederholter konkreter Missachtung infrage stellen, gelten nicht als "Rechtsstaaten" in diesem normativen Sinn.

Was genau macht einen "Rechtsstaat" aus?
Foto: Christian Fischer

Doch genügen die eben erwähnten strukturellen Anforderungen wie Gewaltenteilung, klare Rechtsprozedere, Unabhängigkeit der Justiz? Verlangt die mit dem Begriff der "Rechtsstaatlichkeit" verknüpfte Vision einer Staatsform, die Bürgerinnen und Bürger ein freies und gutes Leben ermöglicht, nicht, dass hier stärkere moralische Grundsätze ins Spiel kommen? Ist "Rechtsstaatlichkeit" nicht auch an substanzielle Auslegungen der Gerechtigkeit und an die Respektierung der Grund- und Menschenrechte gebunden?

Formale Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit

Der amerikanische Rechtstheoretiker Lon L. Fuller nennt in seinem Buch "Die Moral des Rechts" (1964, engl. "The Morality of Law") folgende Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law): Gesetze müssen öffentlich bekannt gemacht werden; sie müssen für die Bürger verständlich, transparent und erfüllbar sein; Gesetze dürfen nicht widersprüchlich sein; sie dürfen weder willkürlich noch rückwirkend erlassen werden; zwischen den erlassenen Gesetzen und den Handlungen von Regierungsvertretern und der Administration muss es Übereinstimmung geben.

Fuller, der eine enge Verbindung von Recht und Moral vertritt, bezeichnet die erwähnten Bedingungen als die "innere Moral des Rechts". Doch Fullers Position gibt Anlass zu folgenden Fragen: Haben die vorgeschlagenen Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit wirklich Kraft? Und: Leistet Fullers Schritt zu einer "inneren Moral des Rechts" nicht einer unzulässigen Moralisierung des Rechts Vorschub?

Zum ersten Punkt

Ungeachtet ihrer Einfachheit haben Fullers Auflagen für Gesetze und Rechtsnormen erhebliche Konsequenzen. So setzen Bedingungen der Gesetzgebung wie "Öffentlichkeit", "Transparenz" und "Verlässlichkeit" autoritären Tendenzen klare Grenzen. Denn Autokraten wollen nach ihrem subjektiven Willen entscheiden, und Intransparenz und Geheimhaltung sind bekannte Mittel der Etablierung diktatorischer Machtverhältnisse.

Fuller hat seine "innere Moral des Rechts" als juridische Antwort auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus entwickelt. Gemessen an diesem historischen Hintergrund ist Fullers Ansatz überzeugend. Denn seine Bedingungen erfassen genau die zunehmende Verlagerung des Nazi-Regimes auf "geheime Führeranordnungen" und verdeutlichen deren Unverträglichkeit mit transparenten und verlässlichen Verfahren der Rechtsetzung. In totalitären Staaten bestimmt nicht eine Verfassung, sondern der erratische Wille der nach absoluter Macht strebenden Staatsspitze, wie Recht entsteht und was als Recht zu gelten hat.

Zum zweiten Punkt

Sollen wir Fullers Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit, wie von ihm vorgeschlagen, als Grundsätze der "inneren Moral des Rechts" verstehen? Bedeutet dies nicht, Moral und Recht auf unzulässige Weise zu vermischen? Bedeutet eine solche Moralisierung des Rechts nicht, wie Hans Kelsen eindringlich warnte, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Rechts zu unterwandern?

Nach Kelsen kann Moral nur dann als kritischer Standard bestehender Rechtssysteme dienen, wenn die Bereiche von Moral und Recht strikt voneinander getrennt sind. Rein begrifflich, so Kelsens Argument, kann X (in unserem Fall: Moral) nicht ein Maßstab zur Bewertung und Prüfung von Y (in unserem Fall: Recht) sein, wenn X und Y eine Einheit bilden.

Fuller hat sich, ungeachtet der Bedenken Kelsens, bewusst für eine innere Verbindung in Form einer Übereinstimmung von Recht und Moral ausgesprochen. Dies ist problematisch, denn wir wollen und sollen Rechtsnormen vom Standpunkt der Moral her kritisch hinterfragen. Und dies wird schwierig, wenn die Trennung zwischen Moral und Recht, zwischen moralischen und rechtlichen Verpflichtungen schwindet.

Doch wir können Fullers Bedingungen, denen Gesetze und Gesetzgebung unterliegen sollten, also Öffentlichkeit, Transparenz, Verlässlichkeit, Nichtwillkürlichkeit, auch anders lesen: nämlich als formale Restriktionen, die sich aus Einsichten in politisch fehlgeleitete, ja inhumane Rechtssysteme ableiten. Fullers Kriterien sind somit das Ergebnis der Übersetzung moralisch-historischer Einsichten über die Rechtsverfehlungen verhängnisvoller politischer Regime in entsprechende normative Standards, denen einigermaßen intakte Rechtssysteme zu genügen haben. Fullers Bedingungen stehen so gesehen zwischen Moral und Recht und unterwandern nicht die für die Unparteilichkeit des Rechts notwendige Trennung von Recht und Moral. Rechtsstaatlichkeit ist somit ein Desideratum, an dem sich alle faktisch gegebenen Rechtsordnungen zu orientieren haben.

Rechtsstaatlichkeit: Ein auf Demokratien beschränktes Ideal?

Nicht wenige Rechtstheoretikerinnen und Rechtstheoretiker argumentieren, dass Rechtsstaatlichkeit nur in Demokratien möglich ist. Denn Rechtsstaatlichkeit bedeute die demokratische Verpflichtung auf substanzielle moralische Prinzipien und einen Katalog von Grundrechten, der sich am Standard der Menschenrechte orientiert. Die Frage ist, ob dieser Zugang nicht den Maßstab der Rechtsstaatlichkeit zu sehr einengt und verabsolutiert. Anders gesagt: Sollte Rechtsstaatlichkeit nicht ein Maßstab sein, dem sich auch nicht als Demokratien definierte Staatsformen graduell annähern können?

Eine an formale Kriterien geknüpfte minimale Konzeption der Rechtsstaatlichkeit wahrt, wie Kritiker einer moralisch dichten Rechtskonzeption monieren, die Chance auf größere politische Wirksamkeit. Wenn Rechtsstaatlichkeit nicht a priori nur auf Demokratien beschränkt ist, bleibt zumindest die Möglichkeit, einen Diskurs mit nichtdemokratischen Staaten über die Sinnhaftigkeit und Angleichung an bestimmte formale Standards zu führen.

Während die Festlegung auf substanzielle und umfassende Moralvorstellungen rasch in unlösbar scheinenden Konflikten endet, scheint eine Auseinandersetzung über die Verbindlichkeit grundlegender formaler Kriterien etwas befreiter von weltanschaulich-politischen und moralischen Vorgaben. Dies schmälert nicht die normative Kraft der erwähnten formalen Bedingungen. So legt die Zurückweisung einer einfachen Anforderung wie jener, dass Gesetze öffentlich und transparent sein sollten, die strukturellen Defizite eines politischen Systems bloß – ungeachtet aller politisch motivierten Verschleierungen.

Fuller, dem die Moral des Rechts ein so großes Anliegen war, spricht weder von Grundrechten noch von Menschenrechten. Dennoch dienen seine Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit (Öffentlichkeit, Transparenz, Verständlichkeit, Nichtwillkürlichkeit) einem demokratischen Ideal: Sie tragen – wenn auch indirekter als verfassungsmäßig verankerte Grundrechte – zur Sicherung der Freiheit und Autonomie der von Rechtsnormen betroffenen Bürgerinnen und Bürger bei.

Die Fragen bleiben: Sollen wir uns für eine moralisch starke Definition von Rechtsstaatlichkeit, die nur von Demokratien erfüllt werden kann, aussprechen? Oder sollen wir, gemessen an dem notwendigen Dialog mit nichtdemokratischen Regierungsformen, das Ideal der Rechtsstaatlichkeit in einem schwächeren Sinn verstehen, nämlich als eine Zielvorstellung, die sich über die graduelle Annäherung an bestimmte formale Bedingungen definiert? Vermag eine auf formale Bedingungen beschränkte Konzeption der Rechtsstaatlichkeit die internen Widersprüche und möglichen politischen Fehlentwicklungen in demokratischen Verfassungsstaaten aufzuzeigen und zu thematisieren? (Herlinde Pauer-Studer, 10.6.2021)