Clemens Apprich ist seit kurzem Professor für Medientheorie und Mediengeschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Foto: Universität für angewandte Kunst / Adam Berry, transmediale, CC BY-SA 4.0

"Das könnte Sie auch interessieren." Sei es beim Online-Einkauf oder auf einem Streaming-Portal: Wenn uns digital ein neuer Vorschlag gemacht wird, steckt dahinter in der Regel ein Filteralgorithmus, der unsere digitalen Gewohnheiten analysiert und davon ausgehend ähnliche Inhalte empfiehlt. Dieses Verfahren wird immer häufiger genannt als ein Beispiel dafür, wie die künstliche Intelligenz ihre menschlichen Nutzer zunehmend manipuliert.

Laut Clemens Apprich ist das eine sehr verkürzte Betrachtung. Der neue Professor für Medientheorie und -geschichte an der Universität für angewandte Kunst Wien ist auf die Erforschung von Filteralgorithmen spezialisiert: "Aus kultur- und medienwissenschaftlicher Sicht ist es ein relativ junges Phänomen – und dann auch wieder nicht."

Das mathematische Prinzip des Algorithmus gibt es nämlich schon sehr lange: Es wurde bereits im 9. Jahrhundert von dem persischen Gelehrten Al-Chwarizmi (latinisiert: Algorismi) entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Und nach diesem Prinzip haben laut Apprich bereits in der Vergangenheit viele Medien funktioniert – zum Beispiel in Form von Kochbüchern.

Im Speziellen beschäftigt sich Apprich aber mit digitalen Algorithmen: "Mich interessiert besonders die Entwicklung der vergangenen 20 bis 30 Jahre. Wie treffen Algorithmen Entscheidungen und organisieren dadurch Kultur für uns? Auf Google oder Spotify sehen wir ja, wie Entscheidungsprozesse zunehmend ausgelagert werden."

Daten filtern

Eine schleichende Machtübernahme durch die Technologie sieht Apprich dadurch aber nicht – im Gegenteil: "Es wird ständig von der Verteidigung des Menschen gegenüber der Maschine geredet. Aber vielleicht müsste es ja gerade umgekehrt sein?" Schließlich treffen die Algorithmen ihre Entscheidungen nur aufgrund der Daten, mit denen sie von Menschen gefüttert werden.

Und somit helfen die Programme dem User lediglich beim Informationserwerb: Um Wissen zu erlangen, musste der Mensch schon immer die bestehende Datenmenge filtern. Früher halfen dabei andere Methoden wie etwa Bibliothekssysteme, jetzt eben Algorithmen.

"Wenn ich dabei aber meine Entscheidungen und Handlungen an technische Systeme abgebe, verdränge ich letztlich nur meine eigene Verantwortung. Algorithmen reproduzieren bloß unsere Daten und kauen so unsere eigenen Vorstellungen und Vorurteile wieder." Wenn der Algorithmus rassistische und sexistische Inhalte empfehle, dann mache er das, weil er ein vom User nachgefragtes Muster reproduziere. Anstatt die Algorithmen zu verteufeln, sollte man die Modelle vielmehr verbessern, damit sie zu produktiveren Ergebnissen kommen.

Energieschub

Menschliche und künstliche Intelligenz als Gegensatzpaar aufzustellen, hält Apprich daher für den falschen Zugang: "Intelligenz war schon immer technologisch vermittelt – es gibt keine Intelligenz, die nicht auch technisch hervorgebracht wurde. Und weil Intelligenz zwischen Mensch und Technologie entsteht, kann sie nur als etwas Kollektives verstanden werden."

Aber in den 1980er-Jahren ändert sich etwas – die KI bekommt einen Energieschub: Datenproduktion und Computerleistung steigen massiv an – und damit erhalten die Systeme das, was bislang fehlte, um nicht nur deduktiv, sondern auch induktiv qualitativ zufriedenstellende Schlüsse zu ziehen: Unmengen von ständig wachsenden Informationen und zunehmende Rechenpower.

Derzeit stecke die Entwicklung aber etwas fest – auch aufgrund des normalisierten Umgangs mit der Technologie: "Der Smart Assistant hilft mir einen Friseurtermin auszumachen oder einen Flug zu buchen. Das kann aber nicht die große Revolution sein, die uns versprochen wurde. Stattdessen sollten wir mit der Maschine kreative, neue Dinge angehen", sagt Apprich.

Wie das aussehen könnte, versucht er nach Stationen in Lüneburg, Montreal und Groningen nun in Wien herauszufinden. Dabei arbeitet er nicht nur theoretisch-historisch zur Geschichte der KI, sondern untersucht den Forschungsgegenstand auch praktisch. Es geht ihm nicht nur um die Frage, wo die KI herkommt, sondern auch um die Frage: Wie wird sie konstruiert?

Beim Denken helfen

Zudem fordert Apprich seinen Fachbereich dazu auf, verstärkt anders zu denken: "In den Digital Humanities wird meistens gefragt: Wie können digitale Tools verwendet werden, um die Geisteswissenschaften zu verbessern? Aber es sollte auch umgekehrt gefragt werden: Wie können die Geisteswissenschaften digitalen Tools beim Denken helfen?"

Trotz aller Begeisterung mahnt Apprich aber auch zur Besonnenheit: Wichtig sei weiterhin die kritische Reflexion und die Universität dafür ein geeigneter Ort: "Wir müssen nicht bei jedem technologischen Hundderschlagen mitmachen, indem wir alles digitalisieren. Wir sollten überlegen, was Digitalität ist, wo sie herkommt und was wir damit wollen – lieber rückwärts schauend vorwärtsgehen als einfach blind losrennen." (Johannes Lau, 16.6.2021)