Dynamisch wie immer, in Hemd und Krawatte, eilt Emmanuel Macron auf die Zaungäste zu. Seine Sicherheitsleute kommen in dem kleinen Dorf in der südfranzösischen Gegend Drôme gar nicht mit. Ein junger Mann in einem khakifarbenen T-Shirt und mit einem dichten Bart unter der Schutzmaske sagt etwas zu ihm – und dann verabreicht er dem Präsidenten eine Ohrfeige, deren Klatsch auf den Videofilmen gut zu hören ist. Jetzt stürzen sich die Leibwächter auf den Täter und machen ihn dingfest.

Selten zuvor fielen die politischen Reaktionen so einhellig wie in diesen Fall aus. "Über den Staatschef wurde die Demokratie anvisiert", erklärte Premierminister Jean Castex nur Minuten später in der Nationalversammlung, wo sich die Abgeordneten spontan erhoben. Andere Präsidenten wie Jacques Chirac oder Nicolas Sarkozy waren auch schon attackiert worden, aber keiner so direkt, so physisch, so demütigend.

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Emmanuel Macron besuchte Tain-L'Hermitage und erhielt eine Ohrfeige.
Foto: AP

Symbolische Funktion

Die Empörung ist in Frankreich auch deshalb so groß, weil der Körper des Staatspräsidenten fast noch wie zu Zeiten der Monarchie auch eine symbolische Funktion hat. "Den Präsidenten physisch zu attackieren bedeutet, Frankreich zu attackieren", erklärte deshalb der Grüne Yannick Jadot, selber Präsidentschaftsanwärter. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon erklärte sich ebenfalls "solidarisch mit dem Präsidenten". Die Rechtsextremistin Marine Le Pen erklärte, "nicht die geringste Geste, nicht die geringste Gewalt" sei gegen einen politischen Gegner zulässig.

Le Parisien

Macron setzte seine Tournee durch französische Regionen noch am gleichen Tag fort und erklärte, man müsse diesen isolierten Zwischenfall relativieren. Er widersprach sich allerdings gleich selber, indem er anfügte, hinter der Tat steckten "äußerst gewalttätige Individuen".

Royalist

Zwei 28-Jährige wurden verhaftet und am Mittwoch wegen Gewalt gegen eine Amtsperson einvernommen. Der Ohrfeiger, ein gewisser Damien T., wird als Royalist und Mittelalter-Fan geschildert. Vor seinem Schlag skandierte er die Parole der französischen Königstreuen, "Montjoie Saint-Denis", und rief dann "Nieder mit der Macronie". Sein Profil gleicht indes eher einem Rechtsextremisten als einem Königsnostalgiker: Laut Pariser Medien pflegt er harte Kampfsportarten und gibt in den sozialen Medien antisemitische Sprüche von sich.

Wenige Stunden vor seiner Ohrfeige hatte ihn ein Fernsehjournalist neben zwei Kumpanen gefilmt. Sie erklärten, sie seien "eher für die Anarchie" und hätten "Dinge zu sagen, die man nicht sagen darf". Damien T. sagte keine Wort.

Bei Hausdurchsuchungen wurden bei Arthur C., dem zweiten Festgenommenen, nicht näher genannte Waffen und auch ein Exemplar von Adolf Hitlers Buch "Mein Kampf" gefunden.

Sicherheitsdebatte

Zur Debatte steht einmal auch die Sicherheit der Politiker. Dem Täter wäre es ein Leichtes gewesen, eine versteckte Waffe einzusetzen. Macron entweicht seinen Bodyguards immer wieder, um einen direkten Kontakt mit dem "Volk" zu suchen. Das tut er, gerade weil er als ein distanzierter Vertreter der Pariser Elite gilt. Nach der Gelbwestenkrise von 2018 bekannte der als "Präsident der Reichen" gebrandmarkte 43-Jährige etwas gewunden: "Ich lasse zweifellos etwas durchscheinen, was mir zwar nicht wirklich entspricht, aber etwas, das die Leute zu hassen begonnen haben."

Spannung

Der Hass auf Macron erklärt aber nicht alles. Die Ohrfeige wäre kaum möglich ohne die Atmosphäre der politischen Spannung und Gewalt, die Frankreich seit längerem heimsucht. Vor den Regionalwahlen Ende Juni und der Präsidentschaftswahl im Mai 2022 verschärft sich die politische Debatte auf beunruhigende Weise. Livesender wie CNews haben es sich zu einer Spezialität gemacht, die Grenzen der politischen Korrektheit zu sprengen. Das wirkt offenbar für viele Franzosen befreiend: Der kleine Sender hat seine Einschaltquoten in kurzer Zeit auf eine Million vervielfacht.

Ihr Hauptexponent Eric Zemmour, der schon wegen Rassenhasses verurteilt worden ist, will selber bei der Präsidentschaftswahl antreten und kommt in Umfragen aus dem Stand auf 13 Prozent der Stimmen. Das beunruhigt auch die Rechtspopulistin Le Pen, die in der gleichen Wählerschaft fischt.

Verschwörungstheoretiker Mélenchon

Nerven zeigt aber auch Mélenchon. Anfang der Woche erklärte er, es würde ihn nicht wundern, wenn vor der Präsidentschaftswahl ein Anschlag oder ein Mord stattfände, der die Wahl beeinflussen soll. Als Beispiel führte er den islamistischen Anschlag in einer jüdischen Schule in Toulouse im Jahr 2012 an, bei dem drei Kinder und ein Rabbi von einem Jihadisten ermordet wurden. Das bringt dem Linkenchef den Vorwurf ein, er verbreite Verschwörungstheorien. Mélenchon konterte, der rechte Youtuber Papacito habe selber die Ermordung eines Mélenchon-Wählers nachgestellt. (Stefan Brändle aus Paris, 9.6.2021)