Bei der Niederschlagung von Aufständen der einheimischen Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) verübten Deutsche den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.

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Fünf Jahre hatte die deutsche Bundesregierung mit Namibia verhandelt, vor einer Woche präsentierte man das Ergebnis: 1,1 Milliarden Euro sollen "als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids" in Projekte in den Siedlungsgebieten der Herero und Nama fließen. Gegen diese Volksgruppen hatte die deutsche Kolonialmacht des wilhelminischen Kaiserreichs von 1904 bis 1908 Krieg geführt und dabei schätzungsweise 65.000 von 80.000 Herero und mindestens 10.000 von 20.000 Nama getötet.

Die Taten in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika gelten als erster Genozid des 20. Jahrhunderts, seit fünf Jahren sind sie offiziell als Völkermord anerkannt. Und selbst wenn die Entschädigungszahlung bei den Opfergruppen neuerlich für Widerspruch sorgt: Deutschland tut mehr als andere. So ist etwa Belgien im Umgang mit dem als Kongogräuel bekannten Genozid an bis zu zehn Millionen Menschen noch immer säumig. Dass triumphierende Statuen des dafür verantwortlichen Königs Leopold II. erst in jüngster Zeit kritisch befragt werden, zeigt den Aufholbedarf.

Vergleiche erlaubt?

In Deutschland hat die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in den letzten Monaten aber auch zu einer breiten Debatte geführt, die bereits als "Historikerstreit 2.0" tituliert wird. Zur Erinnerung: Im ersten sogenannten Historikerstreit ab Mitte der 1980er-Jahre ging es darum, inwiefern der Holocaust, die Ermordung von mindestens sechs Millionen Jüdinnen und Juden, als singuläres Verbrechen identitätsstiftend für die Bundesrepublik sein sollte und ob sich Vergleiche mit dem Gulag-System der Sowjetunion, das ebenfalls Millionen Internierte zu Tode brachte, verbieten würden.

Damals behielt eine Gruppe um den Philosophen Jürgen Habermas die Oberhand, die auf Singularität, also Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Holocaust mit anderen Ereignissen der Geschichte, pochte. Politisch wurde diese Haltung, um Reinwaschungen von rechts zu verhindern, zur Staatsräson, mit Verspätung ab der Affäre Waldheim auch in Österreich.

40 Jahre später rührt sich dagegen nun Widerspruch von Wissenschaftern aus den Postcolonial Studies: Im Kern geht es ihnen um die Frage, ob bestimmte Aspekte, die zum Holocaust führten, bereits in der Kolonialzeit angelegt waren und wie viel Kolonialgeschichte in die offizielle Erinnerungskultur mitaufgenommen werden kann und sollte, ohne dabei einer Relativierung der Shoa Vorschub zu leisten.

Den reflexhaften Vorwurf, eben das mit Vergleichen von Genoziden und dem Aufzeigen rassistischer Kontinuitäten vom 19. bis ins 20. Jahrhundert zu tun, wollen Vertreter der Postcolonial Studies nun nicht mehr auf sich sitzen lassen. "Enttabuisiert den Vergleich!", forderten der Afrikanist Jürgen Zimmerer und der Holocaust-Forscher Michael Rothberg in der Zeit. Einen deutschen "Katechismus", der sich zu sehr auf die NS-Geschichte verengt habe und Erinnerungskultur bisweilen als leeres, einseitiges Ritual erscheinen lässt, beklagte der Genozid-Forscher A. Dirk Moses mit einem Beitrag im Fachmedium Geschichte der Gegenwart.

So schreibt er, dass für immer mehr jüngere Deutsche dieser Katechismus ihre Lebenswelt nicht widerspiegeln würde. "Wie ihre Altersgenossen, die in den USA und in anderen Ländern für Black Lives Matter auf die Straße gegangen sind, verstehen viele, dass Rassismus gegen Deutsche mit ,Migrationshintergrund‘ – und nicht nur, wenn er antisemitisch ausgerichtet ist – ein allgemeines Problem ist."

Herauslösung aus der Geschichte

Für Zimmerer/Rothberg führt das Verbot jedes Vergleichs "zu einer Herauslösung der Schoah aus der Geschichte". Das vermindere sogar "die moralische Schlagkraft des ,Nie-Wieder‘, denn singuläre Ereignisse können sich nicht wiederholen". Außerdem erlaube es rechten Regierungen in Europa – zu nennen wären etwa jene in Ungarn oder Polen –, "die vieltausendfache Komplizenschaft der Vorfahren ihrer Bürger zu vertuschen, womit der notwendige Hinweis auf die deutsche Hauptverantwortung zur Apologie eines neuen Nationalismus missbraucht werden kann."

Der österreichische Historiker, Afrika- und Kolonialismusexperte Walter Sauer hält im Gespräch mit dem STANDARD die Debatte für wichtig, denn "jahrzehntelang sind die Verbrechen der europäischen Kolonialmächte in Afrika und anderswo verharmlost oder unter den Teppich gekehrt worden".

Auch Vergleiche müssten möglich sein: "Ein Völkermord ist ein Völkermord, egal ob er europäische Jüdinnen und Juden oder Afrikanerinnen und Afrikaner betrifft – sie sind und waren alle Menschen."

Und: "Natürlich soll man Opferzahlen nicht gegeneinander aufrechnen. Ich glaube nur, dass aus der Perspektive der namibischen Geschichte der Genozid 1904 einen vergleichbaren Tabubruch dargestellt hat wie der Holocaust für Deutschland oder die Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner für die USA. Aus meiner Sicht relativiert das den Holocaust nicht."

19. Jahrhundert im Fokus

Und dennoch: Die perverse Akribie der Vernichtungslager, der bis ins Detail durchgeplante maschinelle Massenmord, ist das nicht doch in der Geschichte singulär? "Ja", meint auch Sauer. Aber bloß weil jedes historische Ereignis auch singuläre Elemente beinhaltet, sei das noch kein Grund vor Vergleichen zurückzuscheuen. Konzentrationslager, in denen u. a. Vernichtung durch Arbeit betrieben wurde, finden sich etwa schon in der Kolonialzeit.

Welche Erinnerungskultur soll also am Ende dieses "Historikerstreits 2.0" stehen? "Auf keinen Fall eine, die die Bewusstseinsbildung für den Nationalsozialismus einschränkt", sagt Sauer, "aber eine, die festhält, dass Antisemitismus nicht die einzige Form des Rassismus ist."

In der Praxis hieße das, dass die durch das Bestehen auf einer pauschalen Exklusivität des Holocaust eingezogene "Brandmauer" (Zimmerer/Rothberg) zwischen "der guten alten Zeit" und der verbrecherischen NS-Zeit ausgedient hat. In Schulen und Gedenkkultur rückt das 19. Jahrhundert stärker ins Bewusstsein: eine Zeit, in der Rassismus, Industrialisierung und kolonialer Imperialismus die spätere Katastrophe bereits vorbereiteten. (Stefan Weiss, 10.6.2021)