Die Pandemie neigt sich (mal wieder) dem Ende zu. Dass das die meisten Menschen bereits vor einem Jahr so dachten, sei dahingestellt. Aber auch abgesehen davon gibt es erstaunlich viele Parallelen zwischen den politischen Entwicklungen im ersten Halbjahr 2020 und jenen im ersten Halbjahr 2021. War es vor zwölf Monaten vor allem das gemeinsame Aufnehmen von Schulden auf EU-Ebene, das die politische Themenlage abseits vom Ibiza-U-Ausschuss bestimmte, ist es auch noch im Juni 2021 die Aufteilung des Impfstoffs unter den Europäischen Ländern – und Ibiza, eh klar. Der gemeinsame Nenner ist also die Europäische Union (Ibiza ist ja auch ein Teil davon).

Das Friedensprojekt Europa hätte in all den Krisen der letzten Jahre die Antwort sein können, sein müssen. Doch weder bei der Migrationsthematik im Sommer 2015 noch in der Pandemie wollten die Mitgliedstaaten im Zeichen der Solidarität eine gemeinsame Lösung finden und damit ein Stück weit ihre Souveränität beschränken. Ausschlaggebend war hier wohl weder die Europäische Kommission noch das Europaparlament – viel eher stellte der EU-Rat die nationalen Interessen vor die gemeinsamen Interessen.

Über "die in Brüssel" meckern

Abstimmen tun im EU-Rat die nationalen Ministerinnen der Nationalstaaten – also genau jene Personen, die danach zurück in Wien über "die in Brüssel" meckern. Statt die Potenziale durch gemeinsames Handeln zu nutzen, wird die EU also als Sündenbock herangezogen, auf den man zeigt, wenn man selbst nicht die Verantwortung übernehmen möchte. Österreich ging in den letzten Jahren nicht unbedingt als positives Beispiel voran. Dabei wäre doch genau in Zeiten wie diesen Solidarität so gefragt wie nie.

"Man kann über den Weg diskutieren, aber das Ob und das Ziel muss heißen Solidarität und Zusammenarbeit", so Othmar Karas.
Foto: APA/HANS PUNZ

Solidarität. Das bedeutet im Wesentlichen, als Gemeinschaft zusammenzuhalten, um gemeinsam eine Herausforderung zu meistern. Solidarität. Das ist die Grundlage unseres Gemeinwohls. Die EU hat in Person des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker den Begriff nach den Erfahrungen von 2015 den Begriff zur obersten Priorität ernannt und sogar ein eigenes Förderprogramm – den Europäischen Solidaritätskorps – ins Leben gerufen. Doch all diese Anstrengungen waren offensichtlich nur so lange präsent, bis die nächste Krise kam. In der aktuellen Episode des Podcasts Gemeinwohl Geplauder darauf angesprochen, meint der langjährige österreichische EU-Abgeordnete und Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Othmar Karas: "Man kann über den Weg diskutieren, aber das Ob und das Ziel muss heißen Solidarität, Zusammenarbeit, Rücksicht zu nehmen aufeinander, Verständnis füreinander und die liberale Demokratie und unsere Freiheitsrechte glaubwürdig zur Grundlage des politischen Handelns zu machen."

Nichts ist komplexer als eine Krisensituation

Vielleicht ist es auch einfach zu streng zu sagen, die europäischen Lösungen wurden verschmäht. Denn: Schlussendlich ist es ja der EU-Wiederaufbaufonds, der noch viele Jahre lang zukunftsgerichtete Projekte in allen Mitgliedstaaten finanzieren wird, während national schon längst ein Sparpaket und nächste Steuererhöhungen folgen werden. Schlussendlich sind es die gemeinsam angekauften Impfstoffe, die nach Anlaufschwierigkeiten dann doch, wie angekündigt, im ersten Halbjahr mehr als der Hälfte der österreichischen Bevölkerung zur Verfügung standen, während sich Bundeskanzler Sebastian Kurz für Sputnik V nicht mehr zuständig fühlt. Und schlussendlich ist es doch der grüne Pass auf EU-Ebene, der für unsere lang ersehnte Reisefreiheit im Sommer genutzt wird, während sich Österreichs inländische Lösung immer weiter verzögert.

"Viele Einigungen in Europa kommen zustande, indem man einen Schritt setzt und den zweiten unterlässt – und in der Krise kommt es auf den zweiten an", fasst Karas diese Tatsachen zusammen, und ergänzt eine halbe Stunde später: "Die einfache Antwort muss nicht die richtige Antwort sein." Denn nichts ist komplexer als eine Krisensituation. Und bei Unwetter verkriecht sich der Mensch nun einmal am liebsten in der eigenen Höhle. Würden allerdings danach alle Menschen, die ihre Höhlen verlassen, gemeinsam Schutzdächer für das nächste Mal errichten, wäre nicht nur für sie selbst der eigene Heimweg bereits besser geschützt, sondern auch allen anderen geholfen. Solidarisch eben.

Die nächste Krise kommt bestimmt und nähert sich in Form der Klimakatastrophe mit Siebenmeilenstiefeln. Es wird spannend zu beobachten sein, ob dieses Mal die Volksvertretungen ihre Lehren gezogen haben – oder ob sie weiterhin in der Urzeit der Problemlösung verharren wollen. (Fabian Scholda, Gregor Ruttner, 14.6.2021)