Katholiken sind es in Österreich gewohnt, in der Mehrheit zu sein. Die Gesellschaft verändert sich aber, in wenigen Jahren wird sie bereits viel diverser sein.

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Es war der "von Gottes Gnaden" erwählte Kaiser Franz Joseph, der in Österreich die Religionsfreiheit einführte. Eigentlich aus Zwecktoleranz wollte der Habsburger mit dem Staatsgrundgesetz den zerfallenden Vielvölkerstaat noch etwas länger bewahren. Sogar der Islam wurde 1912 als Religion anerkannt – damals einzigartig in Mitteleuropa. Franz Joseph wollte auch den Muslimen im annektierten Bosnien-Herzegowina ihre Rechte zugestehen. Der Vorstoß hat nicht lange genützt: Die Monarchie war bereits wenige Jahre später Geschichte. Doch obwohl es den Vielvölkerstaat ebenso lange nicht mehr gibt, ist Österreich heute in Sachen Religion diverser als zu Kaisers Zeiten.

Das hat zwei Gründe: Da wäre einerseits die Tendenz zur Säkularisierung. Immer mehr Menschen leben ohne religiöses Bekenntnis. Andererseits stieg aufgrund von Zuwanderung auch der Anteil von in Österreich zuvor nicht traditionellen Religionen. So machten beispielsweise Musliminnen und Muslime bis in die Achtzigerjahre nicht einmal ein Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Beginnend mit der Gastarbeiterbewegung bis hin zu der verstärkten Fluchtbewegung aus arabischen Ländern der vergangenen Jahre wuchs die muslimische Bevölkerung seither stark an.

Wie stark, das lässt sich nur schätzen. Seit der letzten Volkszählung 2001 wird die Religionszugehörigkeit nicht mehr abgefragt. Anhand dieser Basis können allerdings wissenschaftlich fundierte Prognosen erstellt werden – unter Berücksichtigung von Faktoren wie Migration, Fertilität, Mortalität und religiöser Mobilität. Ein Forschungsteam um Anne Goujon vom Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) hat auf diese Weise nicht nur die Zusammensetzung der Religionszugehörigkeiten im Jahr 2016 rekonstruiert, sondern auch prognostiziert, wie sie sich im Jahr 2046 verhalten wird.

Trend zur Diversität

Laut der Untersuchung stieg die Zahl der Konfessionslosen und jener Menschen mit muslimischer und christlich-orthodoxer Religion bis 2016 österreichweit beträchtlich, während der Anteil der Katholiken abnahm. Dieser Trend dürfte sich auch in den nächsten fünfzig Jahren fortsetzen. Die Forscherinnen der ÖAW bildeten vier Szenarien abhängig von Zuwanderung und Säkularisierungsmustern. Die zwei plausibelsten sind "Europäische Mobilität" und "Diversität", die von einer moderaten Zuwanderung aus EU-Ländern beziehungsweise nicht-europäischen Ländern ausgehen. Die Unter- und Obergrenze abhängig von der Migrationspolitik stellen die Szenarien "Geringe Zuwanderung" bei geschlossenen Grenzen und "Starke Zuwanderung" bei offenen Grenzen dar.

Die Ergebnisse unterscheiden sich nur geringfügig: Der Anteil der Katholiken geht in allen Schätzungen auf knapp unter fünfzig Prozent zurück, Konfessionslose machen etwa ein Viertel der Bevölkerung aus, Muslime zwischen zwölf und 21 Prozent und Orthodoxe zwischen sechs und neun Prozent.

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Mehr Säkularisierung und Migration in Wien

Gesondert wurden in der ÖAW-Studie die Zahlen für Wien betrachtet. Die Forscherinnen gehen in der Bundeshauptstadt bereits 2016 von einer viel diverseren Religionslandschaft aus als im Rest Österreichs.

Die Gründe sind sowohl stärker ausgeprägte Säkularisierung als auch Migration. Größte Gruppe sind in fast allen Szenarien demnach die Konfessionslosen, gefolgt von Katholiken und Muslimen mit rund je einem Viertel der Bevölkerung.

Vier Jahre nach der Veröffentlichung hält Studienautorin Goujon weiter an ihren Prognosen fest. Die Corona-Pandemie habe die Migration zwar kurzfristig zum Erliegen gebracht, aber dies würde sich wieder normalisieren. Ziel der Studie sei es gewesen, Fakten in die emotionale Migrationsdebatte zu bringen, in der vor allem der Islam oft als Integrationshemmnis dargestellt werde, sagt sie dem STANDARD.

Religion als Faktor für politische Interessen

Das hat sich bis heute nicht geändert. In regelmäßigen Abständen wird etwa über islamische Symbole wie das Kopftuch oder religiös motivierten Extremismus debattiert.

Doch dabei wird viel vermischt. Die Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger kritisiert, dass gewisse Politiker substanziell religiöse Interessen als Migrations- und Integrationskonflikte darstellen. Religionspolitik habe im säkularen Österreich zwar bisher unter dem Konsens agiert, anerkannte Religionsgemeinschaften gleichzubehandeln. Das werde aber aufgegeben, je mehr Religion als Faktor für politische Interessen benutzt werde. Besonders der Islam sei davon betroffen.

Beschleunigter Wandel

Dabei sei der Wandel hin zu religiösem Pluralismus nur bedingt auf Migration zurückzuführen und auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels, meint Rosenberger. Schließlich seien Konfessionslose die zweitstärkste Gruppe in der religiösen Landschaft. Das sieht auch die katholische Pastoraltheologin Regina Polak ähnlich: "Migration beschleunigt nur die Pluralisierung, die in einer liberalen Gesellschaft ohnehin stattfindet."

Und doch: Religiöse Vielfalt braucht Regeln und einen rechtlichen Rahmen. Ziel müsse es sein, friedlich miteinander leben zu können. Und das gelte nicht nur für Angehörige unterschiedlicher Religionen, auch Religiöse und Säkulare müssten zusammenleben können. Ethische Basis müssten dabei die Menschenrechte sein. Es brauche aber ebenso fundierte Religionskritik – auch aus den Gemeinden selbst heraus, erklärt Polak.

Forderung nach säkularer Politik

Politologin Rosenberger sieht den Handlungsbedarf vor allem bei der Politik. Religiöse Pluralisierung verlange nach einer Politik, die säkular ausgerichtet sei, wie internationale Forschung ergeben hätte. Diese behandle Mehrheits- und Minderheitsreligionen gleich und gewährleiste die individuelle Religionsfreiheit. In der Demokratie sei es wichtig, dass die Religionsgemeinschaften zu religionspolitischen Themen einbezogen werden, dass sie aber insbesondere bei gesellschaftspolitischen auch überstimmt werden können. Das gelte in diversen Gesellschaften wie auch in solchen, in denen eine Religion dominant ist. "Moderne Lebensformen wurden gegen den Einfluss der Religion erkämpft", betont die Politologin.

In Österreich sei der geplante Ethik-Unterricht für Schülerinnen und Schüler ohne Bekenntnis ein Ausdruck von Säkularisierung, erklärt Rosenberger. Es solle aber diskutiert werden, ob dieser für alle verbindlich sein sollte. Mit steigendem Pluralismus müssten zudem langfristig kirchliche Feiertage überdacht werden – sei es diese neu zu definieren oder weitere hinzufügen, um auch nichtkatholische Religionsgemeinschaften miteinzubeziehen. Die Politologin findet auch Regelungen zu religiösen Symbolen wichtig. Das Kopftuch hält sie in staatsrepräsentierenden Ämtern, die Neutralität in Bezug auf Religionen zeigen sollen, etwa bei Richterinnen, für nicht angemessen. Dasselbe gelte aber freilich auch für das Kreuz in öffentlichen Schulen.

Bleibt das Kreuz in den Schulklassen? Streng säkulare Politik will alle religiösen Symbole aus der Öffentlichkeit verbannen.
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Raum für Konflikte

So weit möchte Theologin Polak nicht gehen. Eine starke Säkularisierung in Richtung Laizismus würde eine Privatisierung des Glaubens bedeuten. Dies lasse sich mit den monotheistischen Religionen und ihrem gesellschaftspolitischen Selbstverständnis nicht vereinbaren. Polak hält es auch für demokratiepolitisch bedenklich, wenn durch das Verbot religiöser Symbole die Pluralität aus dem öffentlichen Raum verdrängt wird. Denn damit werde ein wesentlicher Bestandteil vom Selbstverständnis eines Menschen ausgegrenzt. Zudem stelle sich die Frage der Religionsfreiheit. Mögliche Konflikte würden weiters nicht beseitigt, sondern nur unsichtbar gemacht. Und die Gesellschaft beraube sich der Partizipation durch religiöse Menschen, betont Polak.

Dabei sei es eine positive Entwicklung, dass junge, österreichische Muslime Ansprüche auf Teilhabe stellen. Die Mehrheitsgesellschaft müsse sich dagegen langfristig von ihrer kulturellen und religiösen Hegemonie verabschieden. "So ein Machtverlust geht auch mit Schmerz und Trauer einher", sagt Polak. "Aber das heißt nicht, dass man keinen Einfluss mehr hat oder nicht mehr mitgestalten kann." Pluralismus müsse nicht als Bedrohung empfunden werden – auch wenn er mit Konflikten verbunden sei. Doch die hätten wir auch ohne Migranten oder Muslime, meint die Theologin. "Wir wären auch so eine hochgradig pluralisierte Gesellschaft – kulturell, sozial, aber auch religiös." (Davina Brunnbauer, 13.6.2021)