Die Wiener Bevölkerung ist nicht unbedingt als die freundlichste oder harmoniebedürftigste der Welt bekannt. So kommt es schon mal vor, dass eine Autofahrerin an einem heißen Sommertag ihre Zigarette aus dem Autofenster wirft, ein anderer Verkehrsteilnehmer sich daraufhin einen Kettenhandschuh überstreift und seinen Wagen verlässt, um der Dame eine Lektion zu erteilen. Zumindest begründete der Handschuhträger so seine Attacke auf ihr Auto später in einem Wiener Gerichtssaal. Und da saß wie so oft STANDARD-Redakteur und Hutträger Michael Möseneder, der die ganz kleinen, aber oft höchst skurrilen Fälle genauso mit Argusaugen verfolgt wie Prozesse um schwere Verbrechen.

Michael Möseneder, "Der Taubenhasser und das Fenster zum Hof – Unglaubliche Wiener Gerichtsprozesse". € 19,90 / 224 Seiten. Haymon-Verlag, Innsbruck 2021
Foto: Haymon

Seine Gerichtsreportagen sind mehr als nur Berichte, seine Formulierungen – oft mit Zitaten aus der Weltliteratur gespickt – bringen seinen Blick auf die Menschen auf den Punkt. Oft ist man amüsiert, manchmal auch berührt oder schockiert ob der Beweggründe, die Leute zu Straftaten veranlassen – je nach dem Wesen der verhandelten Causa. Möseneder hat ein Gespür für Fälle, die nicht jedem ad hoc als berichtenswert erscheinen. So war er auch der Erste, der die Identität des Täters, der für den Terroranschlag in Wien Anfang November 2020 verantwortlich war, kannte: Er hatte den jungen Mann bereits vor Gericht erlebt.

Viel harmloser sind freilich die "kleinen" Fälle wie jener der älteren Dame, die mit der Begründung, sie habe ihr Leben lang hart gearbeitet, unter Dario Fos titelgebendem Motto Bezahlt wird nicht ausgiebig und unter dem Namen einer Bekannten bei einem Shopping-TV-Sender einkaufte. Nicht harmlos, aber erhellend ist dagegen die Geschichte des Pizzabäckers, der aufgrund seiner Peniskrümmung überführt wurde. Auch wenn viele der Fälle, die Möseneder seit Jahrzehnten im Grauen Haus sammelt, nun in Buchform vorliegen, lohnt es sich, auf dem letzten Stand zu bleiben und ihn auch weiter im STANDARD zu lesen. (Colette M. Schmidt, 10.6.2021)