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Europa ist Ziel von Joe Bidens (rechts) erster Auslandsreise. Im britischen Cornwall traf er am Donnerstag mit dem britischen Premier Boris Johnson (links) zusammen.

Foto: AP Photo/Patrick Semansky

Ein Schlachtschiff war im August 1941 Schauplatz eines geheimen Treffens: An Bord der HMS Prince of Wales unterzeichneten der britische Premier und der US-Präsident vor Neufundland die sogenannte Atlantik-Charta – ein Dokument, das zur Grundlage der Vereinten Nationen wurde. In der "Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Welt" betonten Winston Churchill und Franklin Roosevelt mitten im Zweiten Weltkrieg demokratische Werte und internationale Normen wie Gewaltverzicht, Unantastbarkeit staatlicher Grenzen und Freihandel.

Am Donnerstag wollten Premier Boris Johnson und US-Präsident Joe Biden bei ihrem ersten persönlichen Treffen vor den Augen der Weltöffentlichkeit lieber festen Boden unter den Füßen haben. Immerhin gab der neue Flugzeugträger HMS Prince of Wales vor der Küste Cornwalls einen attraktiven Hintergrund für malerische TV-Bilder ab. Knapp 80 Jahre nach dem historischen Vorbild setzte das derzeit regierende angloamerikanische Duo seine Unterschriften unter ein Dokument: Eine neue Atlantik-Charta warnt vor modernen Herausforderungen wie Klimawandel, Cyberkrieg, Pandemien und wirbt für die offene, demokratische Gesellschaft.

Vor ihrem Gespräch waren die beiden Politiker samt Frauen zu einem kurzen Stelldichein für die Fernsehkameras erschienen. Anschließend teilte Biden den Medien scherzhaft mit, er habe etwas mit Johnson gemeinsam: "Wir haben beide Frauen weit über unserem Stand geheiratet." Jill Biden und Carrie Johnson, letztere mit dem einjährigen Sohn Wilfred im Arm, spazierten in vertrautem Gespräch barfuß über den feinen Sandstrand der Bucht.

Comeback als Partner

Das bilaterale Zusammentreffen stellte für beide Teilnehmer eine wichtige diplomatische Etappe dar vor dem G7-Gipfel, zu dem sich die Staats- und Regierungschefs der führenden westlichen Industrienationen an diesem Wochenende in Carbis Bay treffen. Biden will nach den Trump-Jahren Amerikas Rückkehr auf die weltpolitische Bühne als verlässlicher und multilateral eingebundener Partner demonstrieren, Johnson möchte sein Brexit-Land als weltoffen, pragmatisch und lösungsorientiert präsentieren.

Der Text ihrer Atlantik-Charta 2.0 erwähnt zwar China mit keinem Wort, richtet sich aber eindeutig gegen den zunehmend aggressiv auftretenden Giganten in Fernost und dessen Herausforderung an die demokratische Welt. Wie in der Abgrenzung zu China und Russland stimmen die Interessen der beiden permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrates auch andernorts überein. Innerhalb der Nato steht Großbritannien mit aufgestocktem Verteidigungsetat und einsatzbereiten Eingreiftruppen besser da als beispielsweise Deutschland.

Für den diplomatischen Coup des ersten Termins mit dem Chef der westlichen Welt musste der Premier aber eine hässliche Kröte schlucken. Vor seiner Ankunft auf britischem Boden ließ Biden die Briten wissen, er erwarte rasches Einlenken bei der heftig umstrittenen Anwendung des sogenannten Nordirland-Protokolls. Der Präsident tat dies, unter engen Verbündeten äußerst unüblich, in Form einer diplomatischen Protestnote: Die Regierung des Königreichs müsse dringend ihre "zunehmend hitzige Rhetorik" abkühlen, da sie sonst Gefahr laufe, den Friedensprozess zu gefährden.

Der Brexit? Ein "Desaster"

Wer den Frieden in Nordirland gefährde, dürfe nicht mit einem Handelsabkommen rechnen, hatte Biden schon im Wahlkampf eisig mitgeteilt. Den Brexit, den Johnson am liebsten gar nicht mehr erwähnen möchte, hält der Präsident für ein "geostrategisches Desaster".

Dass der Konflikt über das Nordirland-Protokoll zuletzt so hochkochte, überschattet auch den G7-Gipfel. Dort will EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Briten die gleiche klare Botschaft vermitteln wie Biden, der über die Realität auf der Grünen Insel genau Bescheid weiß.

Vielleicht konnte der blonde Engländer seinen Besucher wenigstens davon überzeugen, es handle sich bei ihm nicht um einen "emotionalen und politischen Klon" Trumps: Diesen Verdacht hatte Biden im Herbst nämlich geäußert. In einem kurzen Statement nach dem "phantastischen" Gespräch spielte Johnson die Differenzen über Nordirland herunter: Alle Beteiligten – Washington, London und die EU – wollten "die Balance des Friedensprozesses" wahren.

Dem Ort, wo am Donnerstag die Atlantik-Charta 2.0 unterzeichnet wurde, muss man eine bessere Zukunft wünschen als dem Schlachtschiff von 1941: Schon vier Monate nach dem feierlichen Moment lag der Stolz der Royal Navy auf dem Boden des Ozeans vor Singapur – versenkt von japanischen Flugzeugen. (Sebastian Borger aus London, 10.6.2021)