Martin Kocher: Bis Ende nächsten Jahres müssen wir 100.000 Langzeitarbeitslose in Beschäftigung bringen

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Noch wird um letzte Details zwischen den Sozialpartnern gerungen, doch die Eckpfeiler der neuen Kurzarbeitsregelung ab Juli sind fixiert. Die Kurzarbeit bleibt, obwohl so viele Jobs unbesetzt sind wie seit langem nicht.

STANDARD: Wissen Sie, von wem das stammt: "Die Kurzarbeit wurde spezifisch für den Lockdown entwickelt. Für die Zeit, wo es den Lockdown nicht mehr gibt, setzt sie zu starke Anreize, Menschen in Kurzarbeit zu lassen."

Kocher: Könnte von mir sein.

STANDARD: Sie haben das als Chef des Instituts für Höhere Studien gesagt. Nun gibt es eine neue Kurzarbeitsregelung. Obwohl es keinen Lockdown mehr gibt, bleibt das Modell sehr generös für viele Betriebe.

Kocher: Ich sehe das anders. Die Corona-Kurzarbeit geht ohne wesentliche Änderungen nur für einen ganz kleinen Bereich weiter: Voraussetzung dafür ist ein Umsatzausfall des Betriebs von mindestens 50 Prozent zwischen dem dritten Quartal 2020 und 2019, das ist ein sehr hohes Zugangskriterium. Für alle anderen Unternehmen gibt es ein Kurzarbeitsmodell, das jenem sehr ähnlich ist, das es schon vor Corona gegeben hat. Das spiegelt wider, dass am Arbeitsmarkt wieder eine Dynamik herrscht, die wir nicht bremsen wollen.

STANDARD: Sie haben aber gesagt, dass 120.000 Menschen wohl in Kurzarbeit bleiben werden. Das ist viel.

Kocher: Insgesamt. Für die großzügigere Variante rechnen wir mit 20.000 bis 30.000 Menschen, vielleicht sind es auch 40.000.

STANDARD: Aber diese Leute sind dem Arbeitsmarkt entzogen?

Kocher: Sinn der Kurzarbeit ist, dafür zu sorgen, dass Arbeitskräfte Unternehmen zur Verfügung stehen, wenn es wieder losgeht. Die volkswirtschaftliche Frage ist, wann der richtige Zeitpunkt ist, um die Menschen auch woanders hinzuvermitteln. Im Moment sind die Einschränkungen in einigen Bereichen schon noch stark. In der Nachtgastronomie und im Flugverkehr macht es auf absehbare Zeit noch Sinn, Kurzarbeit zu haben. Die Frage ist, ob das Geschäft zurückkommt. Wenn nicht, macht es natürlich Sinn, Umstellungen vorzunehmen. Deshalb wird es jetzt die etwas einfachere Möglichkeit geben, zwischen den Kurzarbeitsphasen Kündigungen auszusprechen.

STANDARD: Aktuell sind 100.000 Jobs beim AMS als offen gemeldet. So viele waren es 2018 oder 2019 nicht, also in wirtschaftlich guten Jahren. Werden Arbeitskräfte knapp?

Kocher: Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass am Jobmarkt wieder Optimismus herrscht. Viele Anstellungen wurden aufgrund der Unsicherheit in der Pandemie zurückgehalten. Jetzt sind sich aber viele Betriebe sicher, dass das Geschäft wieder zurückkommt. Und es gibt auch Potenzial, diese Stellen zu füllen. Nach so tiefen Krisen mit dem Ausmaß an Kurzarbeit ist es klar, dass es am Anfang im Aufschwung wieder ein gewisses Ungleichgewicht gibt, das lässt sich gar nicht steuern.

STANDARD: Ungleichgewichte?

Kocher: Es sind Leute in Kurzarbeit, die vielleicht woanders gebraucht werden. Es gibt Menschen, die vorher im Tourismus gearbeitet haben und sich umorientiert haben. Touristikbetriebe wissen oft nicht, wie ihr Potenzial am Jobmarkt aussieht, es gibt Saisonniers, die nicht zurückkehren. Solche Verwerfungen gibt es in normalen Zeiten nicht.

STANDARD: Die Gastronomie beklagt laut, dass ihr Mitarbeiter fehlen. Kann das den Aufschwung bremsen, oder übertreiben die Unternehmer?

Kocher: Ich glaube, einiges wird sich in den kommenden Wochen einspielen. Die ganz große Problematik sehe ich nicht. Sollte der Aufschwung so weitergehen, werden wir in immer mehr Branchen einen Arbeitskräftemangel spüren, aufgrund der Demografie und weil schon vor der Krise in Branchen Fachkräftemangel geherrscht hat.

STANDARD: Ein Hebel dagegen ist das Projekt Sprungbrett für Langzeitarbeitslose. Sie haben in einem Schreiben das AMS beauftragt, bis Ende 2022 "per saldo" 50.000 Menschen mit dem Programm in Arbeit zu bringen. Was heißt das konkret?

Kocher: Das ambitionierte Ziel ist, das Niveau der Langzeitarbeitslosigkeit wieder auf jenes vor der Krise zurückzubringen. Wir haben jetzt 150.000 Langzeitarbeitslose, vor der Krise waren es etwa 100.000. Da wollen wir wieder zurückkommen. Das heißt, deutlich mehr als 50.000 Langzeitarbeitslose in Jobs unterzubringen, weil jedes Jahr neue Menschen in diese Gruppe rücken. Wenn wir das alles saldieren, müssten wir bis Ende nächsten Jahres vielleicht 100.000 Menschen aus der Gruppe in Beschäftigung bringen.

STANDARD: Es gibt noch einen Hebel. 20.000 Asylwerber sind im Land, die nicht arbeiten dürfen. Der Staat tut alles, damit das so bleibt. Macht das Sinn?

Kocher: Der Fokus liegt für uns auf den arbeitsberechtigten Asylberechtigten. Da sind immer noch 35.000 Menschen arbeitslos, diese wollen wir integrieren. Ansonsten gibt es die generelle Diskussion darüber, wie wir den Arbeitskräftemangel der Zukunft über das Potenzial im In- und Ausland beheben können. Eine Reform der Rot-Weiß-Rot-Karte steht im Regierungsprogramm.

STANDARD: Der Verfassungsgerichtshof könnte die Einschränkungen im Juni aufheben, die Höchstrichter beraten. Was tun Sie dann?

Kocher: Es macht jetzt erst einmal Sinn, dieses Erkenntnis abzuwarten.

STANDARD: Verwundert Sie das als Wissenschafter nicht, wenn hier sogar Verfahren vor Höchstgerichten geführt werden, damit Menschen, die schon im Land sind, nicht arbeiten dürfen?

Kocher: Die Interpretation ist verkürzt. Sie können arbeiten, als Saisonniers. Aber klar, man sollte darüber diskutieren, welchen Beitrag Migration für einen funktionierenden Arbeitsmarkt leisten kann. Aber nicht anhand von Einzelfällen.

STANDARD: Sie sind ja angetreten, um mehr Empirie in die Politik zu bringen. Nun hat die Koalition die Notstandshilfe für weitere drei Monate angehoben. Parallel wurde die Angleichung der Kündigungsfristen von Arbeitern auf das Niveau von Angestellten wieder um drei Monate verschoben. Die Grünen sagen, dass war Bedingung der ÖVP für die höhere Notstandshilfe. Macht empirisch nicht beides Sinn?

Kocher: Die beiden Vorhaben haben eine gute Begründung. Was die Angleichung der Rechte von Arbeitern und Angestellten betrifft, sollte auch noch etwas Zeit sein, damit die Sozialpartner das in den Details in den Kollektiverträgen berücksichtigen können. Bei der Notstandshilfe war das bewusst eine Verlängerung, bis das Projekt Sprungbrett im Oktober für Langzeitarbeitslose im Vollausbau ist. Wir haben jetzt eine Phase, in der viele Langzeitarbeitslose noch kein adäquates Angebot bekommen.

STANDARD: Sie sagen, die Sozialpartner. Aber die Gewerkschaft hat diese Verschiebung kritisiert, sie war dagegen.

Kocher: Es hat immer Gespräche gegeben, und es war natürlich der Wunsch aus den Reihen der Sozialpartner, die das in den Kollektivverträgen klar geregelt haben wollten. Es macht Sinn, hier noch eine Übergangsfrist zu geben.

STANDARD: Ich frage deshalb, weil fast 100 Prozent der Nettojobverluste in der Corona-Pandemie Arbeiter betrafen. Eine generelle Erhöhung des Arbeitslosengelds gab es nicht. Zugleich wurde die Angleichung der Kündigungsfristen nun insgesamt schon um neun Monate verschoben, bis September. Man hat das Gefühl: Die Regierung rettet alle anderen Gruppen, nur diese nicht.

Kocher: Wegen der drei Monate ist es eine übertriebene Argumentation. Ich stehe zu dieser Angleichung, und die kommt auch. (András Szigetvari, 11.6.2021)