Die Bedürfnisse schreiender Babys zu erkennen ist nicht immer einfach. Das Schreien kann bei Eltern großen Stress und sogar Aggression auslösen.

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Immer wieder schockieren Schütteltraumata bei Babys, zuletzt am Donnerstag in Wien, als ein Vater seine zehn Wochen alte Tochter geschüttelt haben soll – sie schwebte in Lebensgefahr und musste ins Spital gebracht werden. Werden Babys geschüttelt, kann das schwere Verletzungen nach sich ziehen. Zehn bis 30 Prozent sterben sogar an den Folgen. Warum es dazu kommen kann und wie man als Elternteil ruhig bleibt, wenn das Kind nicht aufhört zu schreien, erklärt der Psychologe Hannes Kolar von der Wiener Kinder- und Jugendhilfe.

STANDARD: Warum schreien Babys?

Kolar: Schreien ist die Sprache des Babys, es zeigt damit an, dass es ein Bedürfnis hat. Etwa weil es Hunger hat, müde ist, weil es zu laut ist oder weil es kuscheln will. Je kleiner das Kind, desto weniger kann es sich selbst regulieren. Es braucht also jemanden, der seine Bedürfnisse befriedigt. Manchmal kommt es vor, dass die Eltern die Bedürfnisse aber nicht erkennen oder missinterpretieren, und das führt dazu, dass Babys stundenlang schreien. Doch auch bei feinfühligen Eltern kann es passieren, dass Säuglinge vermehrt schreien, weil das Kind durch seine Veranlagung schwer in einen ausgeglichenen Erregungszustand findet.

STANDARD: Warum passiert es, dass Eltern ihre Kinder schütteln?

Kolar: Wenn Eltern es nicht schaffen, ihre Kinder zu beruhigen, ist das Schreien ein unglaublicher Stressfaktor. Da kommt jeder an seine Grenzen. Aggression ist eine normale Reaktion der Psyche, und man muss sich auch vergeben können, wenn man das einmal gespürt hat. Ist das psychische System aber völlig überlastet, geraten manche Menschen in einen Kampf-oder-Flucht-Modus. Zwar wollen diese Eltern ihre Kinder nicht verletzen, aber sie verlieren die Kontrolle und wollen sich verteidigen, indem sie das Baby schütteln – und das mitunter sehr kräftig. Das tut ihnen danach natürlich furchtbar leid.

STANDARD: Wie kann es so weit kommen?

Kolar: Wie schnell man überlastet ist, hängt mit der eigenen Biografie, den eigenen Erfahrungen zusammen. Häufig sind Eltern, bei denen die Lautstärke des Schreiens eine starke Aggression auslöst, selbst traumatisiert. Sie werden durch das Schreien an eigene Kindheitserlebnisse erinnert, in denen mit ihnen geschrien wurde. Dann können sie sich nicht mehr entspannen und werden gewaltbereit.

STANDARD: Was kann man als Elternteil tun, wenn man mit dem Baby überfordert ist?

Kolar: Man sollte als Erstes schauen, wie sehr man selbst gerade gestresst ist. Man kann ein Baby nicht beruhigen, wenn man nicht ruhig ist. Babys spiegeln diese Anspannung mitunter sogar. Spürt man eine Hilflosigkeit oder einen Ohnmachtszustand, sollte man das Baby erst einmal auf einer weichen Unterlage ablegen. Und dann sollte man versuchen, sich akut zu beruhigen – etwa indem man dreimal tief durchatmet oder sich in der Küche ein Stück Schokolade holt. Man sollte aber nicht ganz weggehen, sondern in verbaler Verbindung mit dem Kind bleiben. Ein guter Tipp sind auch Ohrenstöpsel. Damit hört man noch immer etwas, aber es ist leiser, und die Lautstärke befeuert nicht andauernd unser Stresszentrum. Wenn man das Kind gemeinsam mit einer anderen Person versorgt, sollte man sich im Schichtbetrieb abwechseln. Während sich einer um das Baby kümmert, kann sich der oder die andere beispielsweise im Freien erholen oder einkaufen gehen. Und dann wechselt man sich wieder ab.

STANDARD: Wie kann man sich dann wieder dem Baby zuwenden?

Kolar: Ist man innerlich ruhig, kann man empathischer mit dem Kind umgehen und schafft es auch besser, die Gründe für das Unwohlsein des Babys zu verstehen. Ein guter Tipp ist immer auch Körperberührung. Streichelt man ein Kind mit der warmen Hand auf der nackten Haut, wird das Beziehungshormon Oxytocin ausgeschüttet, das beruhigend wirkt. (Davina Brunnbauer, 11.6.2021)

Hannes Kolar ist Psychologe und Leiter des Fachbereichs Psychologischer Dienst und Inklusion der Wiener Kinder- und Jugendhilfe.
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