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H. C. Artmann (1921–2000): Porträt des Dichters als sitzender Luftikus.

Foto: Hubmann/Imago/picturedesk.com

Als geborener Luftkutscher und Überflieger kam Österreichs virtuosester Lyriker weit herum: mitunter von "Niedercalifornien" bis nach "Crain". Hans Carl Artmann (1921–2000), Sohn eines Schusters aus Breitensee (alias "bradnsee", 14. Wiener Gemeindebezirk), gebot zeitlebens über sämtliche Handwerksarten des Dichtens. Er erfand nicht nur den Wiener Dialekt als Schriftsprache neu ("med ana schwoazzn dintn"). Artmann sprach mühelos in tausend Zungen.

Er mimte den barocken Schäfer und den keltischen Druiden. Er gab den englischen Detektiv im Tweed. Oder er posierte auf dem Papier als transatlantischer Kasper, der in einem Schilderhäuschen der Nordstaaten-Armee auf die Erlösung durch die Fee Pocahontas lauert.

Rosa Artmann-Pock (72), Witwe des Universalgenies und ihrerseits eine bemerkenswerte Prosaautorin, bewohnt nach wie vor die gemeinsame Wohnung in Wien-Josefstadt. In den Buchregalen stehen dicht gedrängt die zahllosen Erstausgaben Artmanns: Als Arbeitsgrundlage dienten ihm vielfach Grammatiken entlegener Sprachen (manche dieser Sprachen erfand der Dichter sicherheitshalber gleich selbst).

Poesie und Handlungsformen

Das Auf- und Absetzen stilistischer Masken betrieb Artmann exzessiv, getreu dem Motto aus der "Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes" (1953): "Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben." Artmann habe Poesie in Handlungsformen übersetzt, sagt Pock.

Doch welche Erlebniswelt lag seiner unbestechlichen Haltung zugrunde? Seinem Hang, die als unzulänglich empfundene Welt zu poetisieren? Pock zieht zum Vergleich einen anderen heute Hundertjährigen heran: den mythomanischen Künstler Joseph Beuys. "Beide verbindet das Trauma des Kriegserlebnisses. Beuys hat ihn als Flieger erlebt. H. C. hingegen war Deserteur." Der Krieg und Nazi-Diktatur um ein Haar nicht überlebt hätte.

Bildung hat ihren Preis

Artmanns Genie erscheint heute umso verblüffender, als er sich seinen Reichtum selbst erschuf. Pock: "H. C. war komplett unverschult. Als unverschulter Mensch hast du eben kein Gymnasium besucht, sondern die Hauptschule. Wir glauben heute immer, dass wir für die Annehmlichkeiten der Bildung keinen Preis zu zahlen hätten. Doch jeder Erfolg schafft neue Probleme." Artmann hätte die Spielformen der Rhetorik bis ins letzte durchschaut. Doch hätte er sich nur in der eigenen Sprache auszudrücken vermocht. Also baute er sie ins Universelle aus.

Artmann habe mit Argusaugen die Veränderung der Sozialstruktur verfolgt: das glatte Gegenteil eines Hans Carl Guck-in-Luft. Er registrierte noch in den 1990ern das Verschwinden von Handwerk und Proletariat. "Artmann roch den Braten genau, als er den ersten Yuppie zu Gesicht bekommen hatte." Er bemerkte kopfschüttelnd das Aufkommen der Investment-Banken, das Erstarken des neoliberalen Marktes. Sein Kommentar: "Das Geld verdirbt uns alle."

Einziges Menschenrecht: Vitalität

Pock: "Man behauptet gerne, H. C. sei ein unpolitischer Autor gewesen. Das Gegenteil ist richtig. Sein wichtigster Text war für mich immer das Manifest gegen die Wiederbewaffnung des Bundesheeres. Das einzige Menschenrecht nach zwei Weltkriegen bestand in der Vitalität: Wenn du schon auf der Welt bist, so besitzt du auch das Recht, dein eigenes Leben so zu leben, wie du es wünschst."

Artmann genoss es, die Welt zu enthierarchisieren, das Unterste nach oben zu stellen: "Erkenne, was die Macht ist! Darin bestand seine Ethik. Weil moralisch war er nie." Und so habe er sogar die eigene Armut, die ihn wiederholt für längere Zeit ins Ausland führte, mit einem Achselzucken ertragen. "Stupide" seien die Umstände manchmal gewesen, erzählt Pock. "H. C. hat häufig den Schutz der Materie entbehren müssen. Dann passiert es dir, dass du noch mit 72 Jahren vom Kulturverein, der dich einlädt, in irgendeine Privatkammer gesteckt wirst." Während Peter Handke und Thomas Bernhard mit ihren Verlegern in den teuersten Hotels zu Tisch saßen. Pock: "Die einen haben die Begabung und besitzen auch das Können, sie zu verwerten. Der H. C. hat das nicht gekonnt." Punkt. "Weil es ihn auch nicht interessiert hat." (Ronald Pohl, 12.6.2021)