Ob im Liegen oder im Stehen – in Bondy träumen fast alle Burschen von einer Karriere à la Kylian Mbappé.

Foto: Stefan Brändle

Bondy hat zugegeben keinen besonders guten Ruf. Bei den schweren Vorstadtkrawallen von 2005 war die Trabantenstadt nordöstlich von Paris ein Hotspot. Heute steht der Stadtname nicht zuletzt wegen eines bekannten Bondy-Blogs schlicht für Banlieue.

Ihrem Klischee ist hier Genüge getan: Graue Wohntürme, in deren Schatten Dealer wachen, bieten gerade einmal freie Sicht auf das Brückengewirr des Autobahnkreuzes A3. Daher vielleicht der Spruch auf einer fensterlosen zehnstöckigen Fassade: "Liebe deinen Traum", er ist Teil der Wandmalerei eines Sportartikelherstellers. Es ist der Traum vom Entkommen. Ein kleiner Bub im grünen Leibchen des Lokalvereins AS Bondy schläft auf einem Fußball als Kopfkissen. Er träumt davon, das blaue Trikot der französischen Nationalelf zu tragen. Nummer: 10. Name: Mbappé. Kylian Mbappé.

"Willst du ein Leibchen mit seiner Unterschrift?", fragt auf dem Trottoir eine akzentreiche Stimme. "Mein Sohn ist mit Kylian in die Schule gegangen, er könnte das arrangieren." Wirklich? Der Herr mit Kapuze und Mundschutz versichert: "Ich weiß, das sagen hier alle. Aber die Unterschrift wäre echt."

Kleiner Ablenkungsversuch: Was hält der Anwohner von Mbappé? "Kyky ist einer von uns – und einer, der es geschafft hat", sagt der Mann, von dem nur das Weiße zweier dunkler Kulleraugen zu sehen ist. "Ich sage immer: Wenn du es zu etwas bringen willst, dann musst du fort von hier. Wie Kylian. Er ist schon auf und davon, als er noch ein Teenager war. Aber sein Leibchen, willst du das?"

Im Auto von Zidane

Stimmt, Mbappé war ein Frühzünder. Beim AS Bondy spielte er nur bis 15. Noch nicht 14, hatte ihn Real-Trainer Zinédine Zidane einmal nach Spanien eingeladen. In Madrid forderte ihn der französische Ex-Weltmeister auf, sich im Auto auf den Nebensitz zu setzen. Bevor Klein Kylian in den blitzenden Sportwagen stieg, fragte er verschüchtert: "Soll ich die Schuhe ausziehen?"

"Im Chor schaute er als Einziger genau hin, wenn ich vorsang, damit er schneller lernte." Céline Bognini, Mbappés Musiklehrerin.

Seine Eltern wollten dann aber nicht, dass ihr Filius nach Spanien zieht. Vater Wilfried, Fußballtrainer aus Kamerun, und Mutter Fayza, eine Spitzenhandballerin mit algerischen Wurzeln, verlangten, dass Kylian zuerst die Schule in Bondy beende. Der Musterschüler tat dies auf seine Art: Er legte die Reifeprüfung schon mit 17 ab. Da war er in seiner Freizeit bereits einmal in der ersten französischen Liga für AS Monaco angetreten.

Mit 18 kam er bei Paris Saint-Germain unter Vertrag. Mit seinem heutigen Klub wurde er Torschützenkönig und Fußballer des Jahres, mit den "Bleus" Weltmeister. Ihre Nummer 10 ist in Frankreich längst Nummer eins, im übertragenen Sinn. Um den Weltstar Mbappé reißen sich die besten europäischen Klubs, obwohl er heute mit 185 Millionen Euro der teuerste Fußballer überhaupt ist.

Aber keine Sorge: "Kylian behält einen kühlen Kopf." Das sagt nicht Zidane. Das sagt eine Frau, die es wissen muss: Céline Bognini war früher in Bondy die Musiklehrerin des Fußballers. Bei ihr lernte Kylian vor einem halben Leben das Querflötespielen. "Er spielte hervorragend. Im Chor schaute er als Einziger genau hin, wenn ich vorsang, damit er schneller lernte." Dann lässt die Italienerin eine Serie von Adjektiven zu Mbappés Charakter vom Stapel: Er sei aufgeweckt, hochintelligent, neugierig, agil, authentisch. Und respektvoll, aufrichtig, fleißig, gelassen. Humor habe er auch eine Menge.

Vieles davon verdanke er seinen Eltern, sagt Bognini. Sie hätten ihre drei Söhne nie aus den Augen gelassen, sondern mit Bedacht auf Wurzeln und Werte erzogen. Dann sagt die Musiklehrerin einen starken Satz: "Wenn Mbappé heute weiß, was er will, dann auch deshalb, weil er weiß, wo er herkommt."

Querflöte und Fußball: Kylian Mbappé.
Foto: APA/AFP/Fife

Wo er herkommt: Das hat der nonchalante Jungstar im Vorjahr in einem Beitrag für The Players’ Tribune klargemacht, gewidmet "den Kindern von Bondy, den Kindern der Pariser Agglo, den Kindern der Vorstädte". Zu ihnen schreibt er da: "Wir sind Träumer. Ich glaube, wir sind so geboren. Vielleicht weil Träumen nichts kostet."

Dann wendet er sich an die anderen: "Die Leute von außerhalb sprechen schlecht über die Banlieue. Aber wenn man nicht von dort stammt, kann man nicht verstehen, was das Wort bedeutet." Kriminalität gebe es überall, Probleme auch, führt Mbappé aus. "Aber ich habe als kleiner Bub auch selber erlebt, wie die härtesten Jungs die Einkaufstaschen meiner Großmutter nach Hause trugen."

Uns Auswärtigen erzählt er, was zu tun sei, wenn einem auf dem Trottoir eine Gruppe von 15 Burschen entgegenkommt. Reißaus nehmen? Nein, man grüßt alle. Betonung auf alle. Auch wenn man nur einen kenne, tausche man mit allen 15 einen Fist-Bump, einen Faust-zu-Faust-Gruß, schreibt Mbappé. "Wenn du nur den grüßt, den du kennst, werden dich die 14 anderen nie vergessen. Sie wissen dann, was für ein Mensch du bist." Unnötig zu sagen: ein schlechter Mensch.

"Um einen Plastikpokal"

So funktioniere die Banlieue. Im Vorstadt-Département Seine-Saint-Denis mit der Verwaltungsnummer 93 – "neuf-trois" für Einheimische – gehe es um zweierlei: Solidarität und Ehre. "Wir spielten um einen Plastikpokal für zwei Euro, als gehe es um Leben oder Tod", erinnert er sich. Das und die harten Lektionen des Banlieue-Lebens hätten ihn mehr gelehrt als die teuerste Fußballakademie, schrieb der Stürmerstar, der seinen Beitrag mit "Kylian aus Bondy" unterzeichnete.

Trainer Didier Deschamps zählt auf Kylian Mbappé.
Foto: APA/AFP/Fife

Ja, in Bondy ist das Leben anders. Die Metzgereien sind als "halal" ausgezeichnet, die Läden "exotisch". Es gibt auch ein paar Zonen mit ehemaligen Arbeiterhäuschen, wo die "Franzosen" leben. So nennen die Bewohner der verfallenden Wohntürme die Weißen.

Einer der Weißen, Bürgermeister Stephen Hervé (44), räumt in seinem hässlich betonierten Rathaus ein, dass er die Familie Mbappé erst einmal persönlich getroffen habe. Man lebt hier getrennt. Nicht unbedingt ethnisch, aber wohlstandsmäßig. Wenn man den Vorsteher von 54.000 Einwohnern zum "Prinzen von Bondy" (so die Lokalmedien) befragt, hat er nur ein paar Gemeinplätze parat. Mbappé, aus einer intakten Familie und einem ehrgeizigen Sportverein stammend, sei ein Vorbild für die Jugend der Gemeinde. Aber nicht das einzige! Bondy habe schon andere Fußballcracks wie Jonathan Ikoné oder William Saliba hervorgebracht, betont Hervé.

Mbappé hält Distanz zur Politik. Nach dem Tod von George Floyd in den USA twitterte er – wie immer selber, ohne Hilfe eines PR-Agenten – die Parole: "Die Polizei mit uns, nicht gegen uns." Wenn der Weltstar gelegentlich nach Bondy kommt, trifft er keine lokalen Würdenträger. Als er in Bondy 2018 den WM-Titel der "Bleus" feierte, kamen tausende vorwiegend junge Einwohner ins Stade Léo-Lagrange, wo Mbappé seine ersten Tore geschossen hatte. Dass er 25 Schüler der Schule Jean-Renoir zu zwei WM-Spielen eingeladen hatte, sagte bei der Feier niemand, auch wenn es in Bondy jeder weiß.

Heute wirkt das Stadion Léo-Lagrange eher ungepflegt. Auf dem zweiten Feld mit dem Kunstrasen trudeln nach Feierabend U16-Burschen zum Fußballtraining ein. Die Begrüßung erfolgt Faust zu Faust, wortlos, aber keiner wird vergessen, auch der unbekannte Besucher nicht. Alle sind hier gleich, eine Hautfarbe hat niemand.

Eine persönliche Meinung schon. Und welche! "Ich mag seinen Stil nicht besonders", sagt einer der Youngsters unwirsch zum Stichwort Mbappé. Surprise: Die andere stimmen alle zu, wenn man nachhakt. Die Gründe müssen sie allerdings zusammensuchen wie eine Ausrede: "Er tanzt zu sehr." Oder: "Er behält den Ball zu lange."

Kleine Wichtigtuer? Ein junger Maghrebiner mischt sich ein: "Weißt du, der Beste von allen ist gar nicht Kylian. Der Beste ist Verratti." Den Namen des italienischen Mittelfeldspielers von Paris Saint-Germain spricht er wie "Verratschi" aus. Banlieue-Akzent. Die anderen nicken: Der Beste ist Verratschi.

"Sein Vater hat Kylian das Rüstzeug mitgegeben, für das Fußballfeld und für das harte Pflaster von Bondy." Tonio Riccardi, Mbappés erster Coach.

So zu tun, als möge man Mbappé nicht: Das ist auch so ein Banlieue-Reflex. Einen Fremden führt man zuerst einmal in die Irre, bevor man ihm herzlichste Gastfreundlichkeit angedeihen lässt. Vielleicht sind die Burschen auch bloß gegen die mediale Überhöhung ihres Ex-Kumpels Mbappé zum Fußballgott.

Denn der PSG-Stürmer ist für sie natürlich der Größte. Der Erfolgreichste, einer, der seinen Traum realisiert hat und einen Ferrari fährt. Aber zugleich ist Mbappé auch einer von ihnen. Einer aus dem "bled", dem Dorf. Einer, der alle grüßt.

Auch der einzige Jugendliche, der ohne Sportkleidung zum Training kommt, gibt sich unbeeindruckt von Mbappé, obwohl er gerne wäre wie er. Millésime, wie der 16-Jährige mit dem blumigen Vornamen der Kongolesen heißt, kommt, um sich von seinen Freunden zu verabschieden: Der Verein Paris FC hat ihn angeheuert. Das ist noch nicht der Spitzenklub PSG, aber es ist ein Anfang für eine Profikarriere. Millésime zählt auf: Ein Bruder spiele in Toulouse, ein Cousin in Bordeaux, einer gar in Monaco. Wie einst Mbappé.

"Die können schon alles"

Millésime sieht seine Zukunft eher in England. Das sagt er ganz nüchtern. Der junge Franko-Kongolese wirkt nicht wie der Träumer von der Wandmalerei. Aber jetzt geht er, da das Training beginnt. Ohne Aufwärmen, ohne lange Theorie. Die unter 16-Jährigen spielen wie die Großen, schießen satt wie Zwanzigjährige. Trainer Tonio Riccardi lässt sie spielen. "Nützt den Raum!", schreit er ab und zu, mehr braucht es nicht. "Es ist verrückt, wie diese Jungs den Ball beherrschen", staunt er selbst. "Die können schon alles."

War das auch so mit Mbappé? "Natürlich", erinnert sich der Trainer. "Kylian war anfangs eher schmächtig, aber schon sehr technisch. Und er war einfach besser, schneller, öfter am Ball. Er lief von selbst. Man musste ihn nur etwas ausrichten."

Tonio, wie ihn hier alle nennen, in Bondy geboren und aufgewachsen, spielt sich aber nicht als "Mbappés erster Trainer" auf. "Am wichtigsten für ihn waren seine Eltern", sagt er. "Sie beraten ihn noch heute, auch wenn sein Vater kaum öffentlich auftritt und die Medien meidet. Aber er war es, der Kylian das Rüstzeug mitgegeben hat, für das Fußballfeld und für das harte Pflaster von Bondy."

Gewiss – aber Mbappé hat auch etwas, das man von keinem lernt. "Kylian entschied ganze Partien im Alleingang", erinnert sich auch Tonio. "Manchmal war es, als hätte er beschlossen, das Spiel zu gewinnen. Und dann gewann seine Mannschaft auch." Nach einer kurzen Anweisung aufs Spielfeld sinniert der Trainer: "So einem Spieler begegnet man als Trainer nur alle dreißig Jahre einmal."

Bestenfalls. (Stefan Brändle aus Paris, 13.6.2021)