Es ist, als wäre der Kompass defekt – als würde die Nadel eiern. Richtig und falsch, hat man das Gefühl, wenn man derzeit mit Grünen spricht, liegen nah beieinander. "Manchmal stehe ich in der Früh auf, lese Meldungen über die neuesten ÖVP-Chats, den nächsten Angriff auf die Justiz und denke mir: Wir müssen raus aus dieser Koalition", sagt ein grüner Landespolitiker. "Zu Mittag spiele ich das Gedankenexperiment durch und komme zum Schluss: Wenn wir hinschmeißen, wäre das auch fatal."

Er ist nicht der einzige Funktionär, der so oder ähnlich denkt. Die Grünen sind flattrig. Das spürt man in der Basis, das merkt man Spitzenmandataren an. Am Sonntag wird der erste grüne Bundeskongress seit der Regierungsbeteiligung stattfinden. Das erste große Get-together seit Corona, seit den Ermittlungen gegen den türkisen Finanzminister und den Kanzler. Es gibt keine große Agenda, und doch: Der Parteitag wird ein Gradmesser. Wenn schon der Kompass nicht ausschlägt, lässt sich zumindest die innerparteiliche Betriebstemperatur messen.

Grünen-Chef Werner Kogler in seinem Büro.
Foto: Christian Fischer

Väterlich-amikales Verhältnis

Parteichef Werner Kogler gilt in seiner holprig-hemdsärmeligen Art als Ruhepol. Er hat die Grünen zurück ins Parlament und in die Regierung geführt; er wird in seiner Partei hochgeschätzt, auch wenn er manchen gar zu ruhig agiert – oder anders formuliert: zu wenig kantig ist. Mit Kanzler Sebastian Kurz wird Kogler von anderen Grünen ein fast väterlich-amikales Verhältnis nachgesagt. Er ist – gemeinsam mit Klubchefin Sigrid Maurer – der Klebstoff dieser Koalition.

Drei Tage vor dem Bundeskongress läuft Kogler in seinem Büro auf und ab, vor seinem Fenster erstreckt sich Wien, in der Ferne der Prater. Er brauche noch schnell einen Espresso, sagt er und geht in Richtung Tür, um ihn schnell selbst zu holen. Seine Pressesprecherin hält ihn zurück, sie mache das schon.

STANDARD: Nervös?

Werner Kogler: Nein, nervös bin ich nicht. Wenn man überzeugt ist von etwas, ruht man in sich.

STANDARD: Wovon sind Sie überzeugt?

Kogler: Überzeugt bin ich von der gesamten Geschichte, dem Regierungsprogramm, unserer Arbeit und letztlich auch von dieser Koalition, weil eine andere gibt es gerade nicht und auch keine andere Mehrheit.

STANDARD: Aber überzeugt das Ihre Basis?

Kogler antwortet auf diese Frage ausschweifend. Fünf Minuten und 24 Sekunden lang spricht er über Treffen mit grünen Mitgliedern, Justizministerin Alma Zadić, Heizkessel, Türkis-Blau und vor allem: die "Sinnhaftigkeit, gar Notwendigkeit der aktuellen Regierung". Die SPÖ stehe bei der Verbindung von Ökologie und Ökonomie "regelmäßig auf der falschen Seite". Es brauche die Grünen, trägt Kogler vor. "Verantwortung suchen, finden, nehmen, durchziehen" sei sein Motto. Er halte zwar nichts von Meinungsforschung, doch "90 Prozent" der Grün-Sympathisanten würden wollen, dass die Grünen regieren. "Frühere Verfehlungen und Spompanadeln der ÖVP hin oder her", ruft er.

"Ich rede mich gern um Kopf und Kragen", sagt Werner Kogler.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Jetzt reden Sie sich um Kopf und Kragen, dabei habe ich doch nur danach gefragt, wie es mit der grünen Basis aussieht.

Kogler: Ich rede mich gern um Kopf und Kragen! Es ist ja wurscht, ob es eine Angriffsrede oder eine Verteidigungsrede ist, eine Rede ist eine Rede, sie sollte halt etwas damit zu tun haben, woran man selber glaubt.

Antrag nie eingebracht

Die Grünen müssen sich derzeit regelmäßig verteidigen, vor allem wegen ihres Koalitionspartners – und das auch intern. Vor dem Bundeskongress können die 287 Delegierten Anträge einbringen. Mehrere Grüne erzählen, dass einige Ideen "von oben freundlich zu Tode diskutiert" worden seien.

Eine Gruppe an Grünen hatte an einem Antrag gearbeitet, der wohl für ziemlich viel Aufsehen gesorgt hätte: Die Funktionärinnen und Funktionäre wollten die grüne Basis darüber abstimmen lassen, ob die Grünen im Fall einer Anklage gegen ein Regierungsmitglied die Koalition verlassen sollen. Einige glauben: Die Basis wäre dafür gewesen. Eingebracht wurde der Antrag schlussendlich nie.

Nach eineinhalb Jahren ist die Koalition für die Grünen zum Drahtseilakt geworden, obwohl das Problem eigentlich die ÖVP hat: Wo kann man mit der Opposition mitgehen, ohne die Koalition zu gefährden? Für eine Verlängerung des Ibiza-U-Ausschusses haben die Grünen in treuer Koalitionsräson lieber nicht gestimmt. Was können die Grünen sagen, ohne einen türkisen Gegenangriff herauszufordern? Von Kogler abwärts werden türkise Pauschalangriffe auf die Justiz verurteilt; ob ein angeklagter Kanzler für die Grünen rücktrittsreif wäre, will aber keiner beantworten.

"Keine Institution ist sakrosankt"

"Die Fehler der ÖVP", sagt Kogler, müsse die selbst verantworten. "Sie müssen auch selber wissen, ob sie damit gut fahren." Die Grünen stünden felsenfest hinter der Justiz, würden die unabhängigen Ermittlungen überhaupt erst möglich machen. Er sagt aber auch: "Keine Institution ist sakrosankt."

Kogler würde gerne den Zugang zu österreichischen Staatsbürgerschaften erleichtern, erklärt er im Gespräch mit dem STANDARD.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: War Ihnen bei den Regierungsverhandlungen schon klar, wie wichtig das Justizressort für die Grünen wird?

Kogler: Alles voraussehen konnte man natürlich nicht. Aber dass es entscheidend wird für Österreich, dass das Justizministerium von jemandem geführt ist, der unbestechlich ist, war schon klar. Es war auch klar, dass die türkis-blaue Ära aufgearbeitet werden muss.

STANDARD: Können Sie sich vorstellen, künftig auch einmal ohne ÖVP Mehrheiten zu suchen?

Kogler: Lebendige Demokratie lebt von wechselnden Mehrheiten. Es ist immer eine Frage der Abwägung, wie wir die meisten Möglichkeiten haben, Dinge durchzusetzen.

"Dinge durchsetzen", daran haben viele Grüne Gefallen gefunden – und fürs Regieren sei eben ein gewisser Pragmatismus notwendig. Aus dem grünen Klub hört man aber auch: Sollte Kurz angeklagt werden und die Opposition bringt einen Misstrauensantrag ein, könnte es Kollegen geben, die mitstimmen wollen – egal, was die Parteispitze sagt.

Kogler betont derzeit hingegen gern, wie viel schon gelungen sei: im Klimaschutz, bei der sozialen Absicherung "gerade von Frauen". Für seine Rede am Sonntag habe er nur einen Stichwortzettel vorbereitet, erzählt der Vizekanzler in seinem Büro, wobei er sein Gekrakel dann ohnehin nicht mehr lesen könne.

STANDARD: Sagt Ihnen eigentlich das neue SPÖ-Modell für einen erleichterten Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft zu?

Kogler: Unsere Zugangsweise ist ähnlich. Man muss bürokratische Dinge im Staatsbürgerschaftswesen erleichtern. Dass Menschen, die seit fünf oder sechs Jahren in Österreich leben, einen Antrag auf eine Staatsbürgerschaft stellen können, halte ich für richtig. Wenn es um die Staatsbürgerschaft für in Österreich geborene Menschen geht, ist das auch eine sinnvolle Diskussion. In unserem Regierungsprogramm findet man dazu ehrlicherweise wenig. Vielleicht wird das ein Thema für nächste Verhandlungen.

Umstrittene Statutenreform

Kogler, der sich 2022 der Wiederwahl zum Bundessprecher stellen will, ist in seinen unterschiedlichen Rollen selbstbewusster geworden in den vergangenen Wochen – das zeigt sich nach außen und nach innen. Beim Bundeskongress soll auch eine umstrittene Statutenreform beschlossen werden. Sie sieht vor, dass sich Grünen-Chefs oder -Chefinnen künftig einer "Urwahl" stellen müssen. Heißt: Jedes Grünen-Mitglied kann über die Spitze mitentscheiden.

Gleichzeitig soll der Bundessprecher aber die Möglichkeit bekommen, zwei oder drei Kandidaten auf wählbare Listenplätze zu hieven – ohne Basisabstimmung. Manche in der Partei fühlen sich bei diesem Vorschlag an "den autoritären Stil von Kurz" erinnert. "Vielleicht heben sie jetzt doch noch ab", sagt ein Grüner.

Kogler sieht die Grünen inmitten einer "riesigen Transformation" – zuerst der Rausflug aus dem Parlament, dann die überraschende Nationalratswahl, nun die Regierungsbeteiligung. Da sei einfach viel passiert. Zumindest der Kompass des Parteichefs kennt offenbar nur eine Richtung: "Nach vorne schauen, Anliegen weitertreiben und sich nicht so viel fürchten", sagt Kogler. (Katharina Mittelstaedt, 11.6.2021)