Yniold (Maresi Riegner), Mélisande (Sophie von Kessel) und der alte König Arkel(Branko Samarovski) – andeutungsvoll ausgestattet mit übergriffigen, riesigen Händen.

Foto: Susanne Hassler-Smith

Lass dein Haar herunter! Dieser Wunsch ereilt im Akademietheater nicht Rapunzel, sondern gegeben wird Pelléas und Mélisande, Maurice Maeterlincks symbolistisches Schauspiel von 1893, was so viel bedeutet wie: Konkrete Informationen zu den Voraussetzungen und Umständen des Geschehens kann man vergessen, alles ist Andeutung und Dräuen.

Wir wissen also nicht, wovor genau die junge Mélisande (Sophie von Kessel) in der Anfangsszene, mit den Armen abwehrend um sich schlagend, auf einem Laufband rennend flieht. Hinter ihr an die Wand projiziert prangt jedenfalls das Bild einer zugeklammerten Wunde. Gewiss ist aber, dass Golaud (Rainer Galke) die Verschreckte findet. Im Trachtenjanker auf der Jagd, liest er sie mit übergriffigen Riesenhänden auf und nimmt sie – nach mehr Überredung, als einem lieb ist – mit ins Schloss seines Großvaters Arkel (Branco Samarovski), wo Mélisande bald als seine unglückliche Frau mit einem Köfferchen unsicher steht.

Kein Märchenschloss

Es ist kein schönes Schloss, sondern modrig und dunkel. Annette Murschetz hat den Bühnenboden mit Erde überzogen. Schwiegermutter Genèvieve (herrlich Barbara Petritsch) in matronenhafter, klimpernder Aufmachung weist den Neuzugang vom Rollstuhl aus in die düsteren Wälder und Räume ein. Das Licht ist von einem ungesunden Grün. Überm Meer rund um die Insel, wo das Schloss steht, hängt dichter Nebel, auch Genèvieve ist einst mit dem Schiff hierhergebracht worden. Da poltert es im Off. Pelléas (Felix Rech) schleppt Mélisandes übrige Koffer heran, kaum auf der Bühne angelangt, platzen sie auf. Doch der erste Blick zwischen den beiden zündet.

Wo Golaud ein schon grau werdender, großer Kerl ist, dessen Umgarnen einen beklommen an Pädophilie denken lässt, ist Pelléas ein fühlendes Gegenüber. Er und Mélisande suchen fortan die Nähe des je anderen, was Golauds Eifersucht weckt. Toxische Männlichkeit steckt ihm im Leib.

Blut spritzt, Tintenfische fliegen

US-Regisseur Daniel Kramer, der mit Pelléas und Mélisande zum ersten Mal eine Inszenierung in Österreich zeigt, schöpft aus dem Stoff (Debussy hat ihn vertont) effektvolle Bilder. Die Plexiglaswand hinten auf der Bühne dient nicht nur als Projektionsfläche, sondern schirmt auch einen Klumpen Fleisch ab. Schießt Golaud mit seinem Jagdgewehr darauf, sprüht das Blut – die Spritzer prangen den Rest des Abends wie ein Omen über den Szenen. Aus einem Wasserbecken schleudert das Hunger leidende Volk des verrottenden Reiches Tintenfische durch die Luft. Golaud hat indes Albträume in einem winzigen Bett, über dem ein lilafarbener Oktopus sich als Mobile dreht. Ebendort penetriert er mit riesigem Geschlechtsteil auch Mélisandes geliebte Puppe.

Haare haben es dem Regisseur besonders angetan, dann verliert Mélisande ihre blonde Perücke oder schlüpft in ein behaartes Kleid. Die Kostüme von Heidi Hackl sind ein Highlight. Die Düsternis konterkariert Kramer zudem mit einer trashigen Gameshow inklusive – Frauenbild! – barbiepuppenhafter Präsentatorin.

Bieder statt blond

So enigmatisch einzelne Szenen sind, zeigt sich nach und nach ein System. Es setzt sich fort, indem es die, die es zu seiner Verjüngung schlucken muss, bricht. Pelléas will weg aus dem Elternhaus, was der sieche Patriarch ihm ebenso verwehrt wie Golaud seiner jungen Frau, die Insel zu verlassen. Während Rechs Pelléas darüber zunehmend rast, fügt Sophie von Kessel sich als Mélisande mit traumatisiertem Blick. Bald sitzt sie in Schürze und mit biederer Dauerwelle bei Handarbeiten auf einem berüschten Sofa vorm Fernseher. Sie gleicht sich optisch der Schwiegermama an. Das hat Tragik und Witz.

Zu schwach, um sich selbst noch aus dem Haushalt der Verdammten zu retten, kann Mélisande immerhin dessen schwächstes Glied erlösen. Stiefsohn Yniold (Maresi Riegner) leiht sich ihre Pumps und krault dem Vater darin das Brusthaar, am Ende kastriert er sich selbst. Riegner gehören die intensivsten Szenen, doch das ganze Ensemble liefert.

Die Geschlechtsidentitätskrise hat der Regisseur dazuerfunden, überhaupt fokussiert er stark auf Gewalt gegen Frauen. So wirkt das Stück alles andere als aus der Zeit gefallen. Nach fast zwei Stunden gab es dafür verdient viel Applaus. (Michael Wurmitzer, 13.6.2021)