Mit dem Stillhalten ist es bei Mrs. Amsi so eine Sache. Sie will einfach nicht. Stattdessen zappelt sie am rutschigen Boden des Becherlupenglases herum und hat wohl auf Panikmodus geschaltet. Die zwölfjährige Fatmagül stellt den durchsichtigen Behälter, in dem sie das Tier beobachten will, neben sich ab, zückt den Bleistift und legt los: Die im Wald eingesammelte Ameise will gezeichnet und nach Lust und Laune benannt werden, bevor das Mädchen im Kosmos Insektenführer den vollen Namen von Mrs. Amsi nachschlägt.

Porträt einer Ameise als Teil der Arbeit im Unterrichtsfach Wald.
Foto: Christian Fischer

Es ist Waldtag in der 2A der Brückenschule in Wien-Liesing. Nicht zu verwechseln mit Wandertag! Das Lernen in der Natur hat an der direkt am Stadtrand angesiedelten Mittelschule einen besonderen Stellenwert: Wald ist hier ein eigenes Fach. Genauso eines wie Mathematik oder Turnen. Weil das in einer 45-Minuten-Einheit natürlich nicht sinnvoll "unterrichtet" werden kann, musste Direktorin Sylvia Vogt den einen oder anderen Spagat hinlegen, damit das Ganze im komplexen Organisationsgefüge des heimischen Schulsystems überhaupt durchführbar ist. Es ist ihr gelungen – und das bereits vor neun Jahren. So lange hat sich die Schule schon der Outdoor-Pädagogik verschrieben.

Das heißt für die Schülerinnen und Schüler: Alle ersten Klassen verbringen im Zwei-Wochen-Rhythmus einen Tag im Freien. In der sechsten Schulstufe geht es nur noch einmal pro Monat raus. Danach versuche man, die pubertierenden Teenager über den naturwissenschaftlichen Schwerpunkt der Schule abzuholen, sagt die Direktorin. Bei den Jungen gehöre dafür der Grundstein gelegt: bei jedem Wetter. Und ja, es gibt auch Noten.

Unterrichtsfach Wald

"Eins, zwei, drei, vier", beginnt Michaela Lechner plötzlich zu zählen – und die Kinder verteilen sich in allen Richtungen des Waldes auf der Suche nach dem besten Versteck. Gerade hat die Zoologin und pädagogische Quereinsteigerin mit der Klasse einen Bach überquert. Dafür mussten sie steil hinunterklettern, steil hinauf. Wasserkontakt ist dabei nicht ausgeschlossen.

Steil hinunter, steil hinauf: Wasserkontakt nicht ausgeschlossen.
Foto: Christian Fischer

Sie kennen den Weg zu "ihrem" Wald, wo sie auf Einladung des Besitzers den "Unterricht" abhalten dürfen. Heute ist alles gutgegangen, man hat sich an den Händen gehalten, aufeinander gewartet, das Gepäck gemeinsam geschultert. "Hier im Wald bricht das soziale Gefüge oft auf", sagt Michaela Lechner. Die großen Checker sind da manchmal gar nicht mehr so cool, trauen sich etwas nicht oder haben schlicht die falschen Schuhe an.

Eine verfahrene Situation und ein Weg hinaus

Am Beginn des Schulschwerpunktes stand eigentlich ein Problem: Direktorin Sylvia Vogt hatte Kinder aus 26 Nationen im Haus, Onlinemobbing war damals ein Riesenthema. Überforderte Eltern, ratlose Lehrkräfte – eine verfahrene Situation. "Ich habe also etwas gebraucht, wo alle glücklich sind, wo die Kinder einen freien Kopf bekommen", erinnert sich Vogt. Bei einem Blick in die Zeitschrift Geo habe es damals klick gemacht: Auf dem Cover hing ein Kind vom Baum, "und ich wusste: Die Kinder müssen raus!" Jetzt galt es, die Behörden davon zu überzeugen, dass es für nachhaltiges Lernen im Wald auch eine entsprechende Fachkraft braucht – und zwar angestellt. Die Kosten für einzelne Exkursionen können die meisten Eltern an der Schule nämlich nicht einfach lockermachen.

Balzender Kuckuck

Der Vormittag im Wienerwald regt alle Sinne an. Wir lauschen dem Balzruf des Kuckucks. Wir riechen die Blätter, das nasse Gras. Wir sehen uns den Keimling einer Eichel ganz genau an – "Frau Lechner, Sie haben den Baum kaputtgemacht." Und weil Frau Lechner so eine Art Wundermischung aus fachlicher Kompetenz und einfühlsamer Pädagogik ist, wird jede Gelegenheit genutzt, um quasi nebenher Wissen zu vermitteln. Eine Raupe auf Hannas Jacke: "Ist das auch ein Insekt?", fragt die Zoologin.

Schauen, spüren – und nebenher lernen.
Foto: Christian Fischer

Im Sitzkreis auf den Baumstämmen nahe der Lichtung soll jeder etwas im Wald benennen, worauf er oder sie sich schon besonders gefreut hat. Frau Lechner fängt an, "weil ich weiß, dass das nicht so leicht ist". Als sie die Haut einer entschlüpften Libelle in der Runde herumreicht, sind nicht alle happy. Mohammed lässt das Ding vor Schreck gleich fallen, die Mädchen kreischen, die begleitende Klassenvorständin kommentiert: "Bist a Bua, oder bist a Lulu?" Ein Mädchen lässt sie wissen: "Ich brauch kane hysterischen Blunzn!" Frau Lechner fängt die Situation auf, indem sie den Kindern den nächsten Arbeitsauftrag gibt. Für sie zählt wohl, was sie dem STANDARD vorab verraten hat: "Wenn die Kinder genau hinschauen oder das Tier dann doch in die Hand nehmen, das gerade noch igitt war, da geht mir das Herz auf. Da merke ich, dass ich hier etwas Sinnvolles mache." Frau Lechner ist überzeugt: "Ich erreiche die Kinder nicht nur über das Kognitive."

Die Haut einer entschlüpften Libelle sorgt für Furore.
Foto: Christian Fischer

Das hat sich mittlerweile auch unter Eltern wie Lehrkräften herumgesprochen. Zum Projekt befragt, geben Erstere an, die Zeit in der Natur tue ihren Kindern einfach gut, das sei deutlich zu bemerken. Auch bei den Pädagoginnen und Pädagogen kommt das Konzept gut an: "Am Anfang wollte niemand mitgehen", sagt Direktorin Vogt, "heute will fast jeder."

Handy zücken

Was zumindest an jenem Tag im Wald zu bemerken ist: Die Klasse ist ausgesprochen aufmerksam, alle wollen hören, was als Nächstes kommt. Für Disziplin muss hier niemand sorgen. Auf die Idee, zum Mobiltelefon zu greifen, kommt nur Waldi: Er möchte die Blumen fotografieren und das Bild später auf Instagram stellen. (Reportage: Karin Riss, Fotos: Christian Fischer, 14.6.2021)