Parkplätze, Straßen, Wohnhäuser: Tausende Hektar Boden verschwinden in Österreich jedes Jahr unter Beton, so viele wie fast nirgends.

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Wer sich ein wenig mit Bodenverbrauch beschäftigt, stößt schnell auf das eigenartige Wort "Flächenfraß". Dabei hat das Phänomen eher etwas mit stetigem Knabbern zu tun: da ein paar Nüsse, hier ein paar Brezeln... Am Ende des Abends ist die gesamte Packung des Partymix weg – und niemand will es gewesen sein.

Es sind viele kleine Stellen, die in Österreich angeknabbert werden: von der Erweiterung einer Abfüllanlage in Vorarlberg, vom Neubau einer Schnellstraße in Niederösterreich, eines neuen Supermarkts im Speckgürtel, eines Einfamilienhauses im Grünen. Es sind stets nur wenige Quadratmeter bis Hektar, die verbaut werden, doch am Ende des Tages steht unter dem Strich eine gewaltige Zahl: Rund 13 Hektar Land gehen in Österreich täglich verloren, 18 Fußballfelder oder mehr als ein Wiener Stadtpark jeden Tag, ganz Wien alle zehn Jahre, 100 Quadratmeter pro Minute.

Österreichs verbaute Fläche wächst dreimal schneller als seine Bevölkerung (siehe Grafik Seite 19). Damit liegt das Land im europäischen Spitzenfeld. Doch was läuft hier eigentlich so schief?

Naheverhältnis bei Widmungen

Flächenwidmung ist in Österreich Gemeindesache. Wer bauen will, geht zum Bürgermeister. Der steckt in einem Dilemma: Einfamilienhäuser bringen die für den Finanzausgleich so wertvollen Hauptwohnsitze, Gewerbegebiete füllen die Gemeindekassen durch Kommunalsteuer, die Unternehmen zahlen. Entscheidet sich die Lokalpolitik gegen die Umwidmung, entsteht das Einkaufszentrum eben im Nachbardorf. Letztlich stehen die mehr als 2100 Gemeinden zueinander in Konkurrenz. Beim Bau von Privathäusern ist es hingegen oft das Naheverhältnis zwischen Antragsteller und Politik, welches dazu führt, dass Umwidmungsanträge oft auf fruchtbaren Boden fallen.

Und das im wahrsten Sinne des Wortes: Denn die Flächen, auf denen neue Straßen und Gebäude gebaut werden sollen, sind oft die besten Ackerböden. Ein Schwinden dieser Böden heißt nicht nur weniger Fläche für Getreide, Obst und Gemüse, sondern auch mehr Erosion, Überschwemmungen und weniger Biodiversität. Die Österreichische Hagelversicherung hat das Thema deshalb zu ihrer Toppriorität erklärt. Ihr Chef Kurt Weinberger findet drastische Worte: "Es ist das brennendste Umweltproblem, mit dem wir hier konfrontiert sind", sagte er bei einer Veranstaltung vergangenen Dienstag. "Ein Land mit immer weniger Böden ist wie ein Mensch mit immer weniger Haut: nicht mehr überlebensfähig."

Verfehlte Ziele

Nicht nur Wohn- und Gewerbegebiete, auch Straßen fressen sich immer weiter ins Land. Nur ein Beispiel: Für die geplante neun Kilometer lange S34 sollen in Niederösterreich etwa 100 Hektar Wald und Ackerfläche geopfert werden.

Zersiedlung und Straßenbau hängen dabei unweigerlich zusammen. "Wenn ich zersiedle, brauche ich mehr Straßen – mehr Straßen wiederum ermöglichen mehr Zersiedelung, sagt Christian Gratzer vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ) zum STANDARD. Wer dank zusätzlicher Autobahnen schneller zum Arbeitsort gelangt, vergrößere schließlich seinen Suchradius für das Einfamilienhaus immer weiter. Der Homeoffice-Trend, der eigentlich dazu führen sollte, dass Verkehr reduziert wird, könnte das Problem aber weiter verschärfen, wenn Menschen den Suchradius ausweiten.

Die Bundesregierung will den Flächenverbrauch jedenfalls bis 2030 auf 2,5 Hektar einschränken – ein Ziel, das sich nicht nur im Regierungsprogramm, sondern bereits in der Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes aus dem Jahr 2002 findet. Damals setzte man sich 2010 als Zieljahr, in dem der tägliche Flächenfraß übrigens noch bei 24 Hektar pro Tag lag.

Einfamilienhäuser entstehen oft auf den fruchtbarsten Böden.
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Der Blick von oben

Damit das Ziel nicht wieder verfehlt wird, muss sich für Arthur Kanonier etwas an den Zuständigkeiten ändern. Er leitet Forschungsbereich Bodenpolitik und Bodenmanagement an der Technischen Universität Wien. Dass Bürgermeister als entscheidende Organe nah am Geschehen dran sind, hätte grundsätzlich Vorteile. "Aber wenn ich mit dem Antragsteller in der Bergrettung oder der Blasmusik bin, treffe ich vielleicht keine fachlich richtige Entscheidung", sagt Kanonier.

Ein Blick auf die Satellitenkarte zeigt, wie es anders gehen kann. Die Staatsgrenze kann man dort fast schon am Grad der Zersiedlung sehen, denn in Bayern und Südtirol sind Siedlungen viel kompakter als in Österreich. In Deutschland gibt es eine hierarchische Flächenordnung, die den Gemeinden nur noch eingeschränkte Möglichkeiten zur Umwidmung lasse. Südtirol wiederum habe so strenge Vorgaben – etwa was Geschoßanzahl betrifft –, dass manche schon vom "Ende des Einfamilienhauses" sprechen würden, so Kanonier.

In Österreich denkbar seien außerdem Siedlungsgrenzen, die Wohngebiete dauerhaft von Grünland trennen. Über diese Grenzen hinaus dürften Gemeinden dann keine Baugründe mehr widmen. "Die ewige Diskussion Bau- gegen Grünland wäre dann erst einmal erledigt", sagt der Raumordnungsexperte. Das würde auch den 2100 österreichischen Gemeinden helfen. Rund 80 Prozent von ihnen haben weniger als 2000 Einwohner – und auch nur eine kleine Verwaltung, die man durch den Wegfall der Widmungsdiskussion entlasten würde.

Eine Lösung mehrere politische Ebenen darüber wünscht sich Martin Hojsík. Der slowakische EU-Abgeordnete war federführend an einer Resolution zum Bodenschutz beteiligt, die das Europäische Parlament kürzlich mit großer Mehrheit verabschiedet hat.

Erfolg, wenn nichts passiert

"Wir haben eine Rahmenrichtlinie für Luft und für Wasser, aber keine für Boden", sagt Hojsík zum STANDARD. In dem Entschließungsantrag fordert das Parlament die Kommission nicht nur auf, den Verbrauch der Böden zu stoppen, sondern sie auch vor Überdüngung, Erosion, Verdichtung oder Vergiftung zu schützen.

Rechtlich bindend ist die Resolution nicht, denn ein Recht zur Initiierung von Gesetzen besitzt das EU-Parlament bekanntlich nicht. Hojsík hofft aber auf das Versprechen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Antrittsrede, vom Parlament kommenden Aufforderungen Folge zu leisten. Schon einmal waren EU-weite Regelungen zum Bodenschutz im Gespräch. 2014 zog die EU-Kommission die Bodenrahmenrichtlinie zurück, nachdem einige Mitgliedsstaaten die Vorlage jahrelang blockiert hatten – darunter Österreich.

Wie auch immer der österreichische Boden in Zukunft geschützt wird – politisch gibt es bei diesem Thema nicht viel zu holen. "Das Halten von Grünland interessiert niemanden, die Verschandelung schon", sagt Kanonier. "Die größten Erfolgsgeschichten in der Raumordnungspolitik sind oft die, wenn gar nichts passiert." (Philip Pramer, 3.7.2021)