Strom soll laut dem Plan der Internationalen Energieagentur bald nur noch aus regenerativen Quellen kommen.

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Von den unzähligen Appellen, die seit geraumer Zeit Medien und Klimakonferenzen weltweit dominieren, ist es wahrscheinlich einer der eindringlichsten: Auch wenn wir alle aktuellen Klimaziele umsetzen, erreichen wir unser gestecktes Ziel, die globale Erderwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad einzudämmen, nicht. Noch schlimmer: Wir verfehlen es deutlich. Wir würden allein bis 2050 satte 22 Milliarden Tonnen CO2 zu viel in der Atmosphäre anhäufen. Um es nochmals zu betonen: Dieses Szenario spielt sich sogar dann ab, wenn alle Staaten ihre selbstgesetzten Ziele zur Kohlendioxidreduktion erreichen!

Sind also unsere Ziele womöglich zu wenig ambitioniert, ist unser Handeln zu vorsichtig, sind unsere Visionen zu zaghaft? Wie es anders gehen könnte, das zeigt nun erstmals ein 224 Seiten starker Bericht der Internationalen Energiebehörde (IEA) auf. Mehrere Optionen für eine Welt, die bis Mitte des Jahrhunderts weniger schädliche Emissionen ausstößt, als aufnimmt, lägen auf dem Tisch. Im Bericht werde die technisch am ehesten umsetzbare, kosteneffizienteste und sozial akzeptabelste präsentiert, so die Autorinnen und Autoren der Studie.

Es fehlt an Verständnis

Der im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Glasgow von der britischen Regierung in Auftrag gegebene Bericht spart dabei nicht mit deutlichen Worten. So sei es zu begrüßen, dass sich offenbar ein politischer Konsens zur "Netto-Null" bis 2050 herauskristallisiere. Es fehle den handelnden Personen aber offenbar am Verständnis, welche einschneidenden Veränderungen für solch eine Transformation unseres Energiesektors nötig seien. Drei Viertel unserer Treibhausgasemissionen stammen nämlich aus dem Energiesektor. Das nüchterne und bekannte Ergebnis: Es bleibt schlichtweg keine Zeit mehr für Trödeleien.

Mehr als 400 Meilensteine säumen bis 2050 den Weg zur Netto-Null. Die ersten müssen noch heuer umgesetzt werden. So fordert die IEA etwa, ab sofort keine neuen Genehmigungen für Öl-, Gas- und Kohleförderprojekte mehr auszustellen. Ein Vorhaben, das etwa Gastgeberland Großbritannien sowie zahlreiche andere Teilnehmenden der diesjährigen Klimakonferenz bereits gebrochen haben, indem London Bohrungsrechte in der Nordsee vergeben oder China zahlreiche Kohlekraftlizenzen verkauft hat. Nicht einmal die spärlichen Ankündigungen Dänemarks, ab 2050 keine Ölbohrlizenzen mehr zu vergeben, werden in dem Bericht als positiv bewerten, denn: zu wenig, zu spät, so die Kritik der Experten.

Das Ende von Öl und Gas

Dabei sind sich die Verfasser des Berichts völlig bewusst, dass der Weg zur Netto-Null kein globales Kopf-an-Kopf-Rennen darstellen könne, sondern dass Staaten unterschiedlich schnell gewisse Ziele erreichen können und müssen. Industrienationen müssten etwa voranpreschen und gewisse Ziele wie die Umstellung auf elektrisch betriebene Fahrzeuge oder generalsanierte, emissionsarme Häuser früher erreichen – und dann die anderen Staaten in ihren Bestrebungen unterstützen.

Überhaupt gelte es, die gesamte Welt einmal ans Stromnetz anzuschließen. 785 Millionen Menschen brauchen dringend diesen Zugang, um emissionsintensive Heizmethoden wie Holz oder Kohle möglichst zu unterbinden. Gleiches gilt für rund 2,6 Milliarden Menschen, die immer noch mit Feuer kochen. Das würde auch gesundheitliche Vorteile bringen, denn derzeit sterben jährlich rund 1,6 Millionen Menschen an den Folgen von "indoor pollution".

Keine Verbrenner-Autos mehr ab 2035

Hierzulande relevanter als das offene Feuer in der Küche dürfte der Vorschlag der IEA sein, ab 2025 neue mit Öl oder Gas betriebene Boiler zu verbieten. Das Warmwasser für die Dusche soll dann vor allem mit Strom, Wasserstoff oder synthetischem Gas erhitzt werden.

Wenig überraschend sollen auch elektrisch angetriebene Autos Teil der Energiewende sein. Stehen wir heute bei einem Anteil von nur fünf Prozent an neugekauften Autos, sollen E-Autos bis 2030 mehr als 60 Prozent aller Autoneuanschaffungen ausmachen. 2035 sollen überhaupt keine Verbrenner-Pkws mehr verkauft werden, und die Lkw-Flotten soll zur Hälfte mit E-Antrieb vom Stapel laufen.

2030 sollen laut IEA-Plan sechs von zehn verkauften Autos elektrisch sein.
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Solche Vorhaben verlangen nach jeder Menge Strom. Strom, der aber möglichst nur mehr aus erneuerbaren Energien kommen soll – wozu die IEA auch solchen aus Kernkraftwerken zählt, deren Anteil am Gesamtenergieverbrauch sich bis 2050 verdoppeln soll.

Das schreit alles regelrecht nach besserem Energiemanagement und gesteigerter Effizienz. Laut IEA-Plan würde die Weltwirtschaft – auch dank der enormen Investitionen in erneuerbare Energien – bis 2030 um bis zu 40 Prozent gewachsen sein, gleichzeitig sollte die Welt aber um sieben Prozent weniger Energie als noch heute dafür aufwenden. Oder anders ausgedrückt: Das Wirtschaftswachstum soll sich vom Energieverbrauch noch weiter entkoppeln.

Die Dekade der sauberen Energie

Tatsächlich wirkt es auf den ersten Blick beinahe unmöglich, derartige Levels an sauberer Stromproduktion erreichen zu können. Andere wiederum nennen es einfach die größte menschliche Kraftanstrengung aller Zeiten, aber eben machbar – wenn der politische Wille da sei. Um den Stromverbrauch zu decken und die aufgrund der langsam abzudrehenden Verbrennung von Kohle, Öl und Gas fehlende Elektrizität zu kompensieren, wird einerseits auch auf Wasser- und Atomkraft, vor allem aber auf Wind- und Solarenergie gesetzt. Dafür müssten jährlich (!) so viel neue Solarkraftpanels installiert werden, wie heute in der größten Photovoltaikanlage der Welt stehen.

Das Spannende am Bericht: Alle notwendigen Maßnahmen zu einer drastischen Reduktion der Treibhausgase bis 2030 existieren bereits. Man müsse sie nur konsequent umsetzen. Denn schon heute seien erneuerbare Energien oft günstiger als ihre fossilen Kontrahenten. Vor allem Letztere werden aber derzeit durch klimaschädliche Subventionen gefördert. Schichtet man diese gezielt um, soll es nicht nur gelingen, die 2020er als die Dekade der sauberen Energie in die Geschichte eingehen zu lassen, sondern auch, dass das sozial gerecht passiert. 30 Millionen neu geschaffene Jobs in der Erneuerbaren- und Sanierungsbranche sollen lediglich fünf Millionen verlorene Jobs in fossilen Branchen gegenüberstehen.

Der Großteil der Maßnahmen braucht zwar enormen politischen Willen, ändert aber, einmal umgesetzt, kaum etwas am Lebensalltag der breiten Masse. Das Handy lädt mit Solarstrom schließlich gleich gut wie die aus umweltfreundlichem Stahl hergestellte Pfanne nicht schlechter brät.

Umstrittene Technologie

Trotzdem braucht der ambitionierte Plan der IEA die Unterstützung der vielen: Selbst wenn Regierungen nachhaltige Technologien fördern – die Entscheidung zum Kauf eines E-Autos oder zur Gebäudesanierung muss immer noch von den Menschen selbst kommen.

Nur ein kleiner Teil der Einsparung soll hingegen auf Verhaltensänderungen beruhen. Als Beispiele nennt die IEA etwa die Reduktion von Geschäftsreisen mit dem Flugzeug oder eine Beschränkung der Geschwindigkeit auf Autobahnen auf 100 Stundenkilometer.

Damit die Kurve der CO2-Emissionen auch nach 2030 steil bergab geht, sind Forschung und Entwicklung essenziell für den Weg zur Netto-Null. Einsparungen aus zukünftigen Technologien hat die IEA nämlich bereits einkalkuliert, 2050 sollen sie rund 46 Prozent der Reduktion ausmachen (siehe Grafik).

Dazu zählen etwa energiesparende Innovationen in der chemischen Industrie sowie Durchbrüche in der Akkutechnologie, welche den Weg für die großen Umwälzungen ebnen soll. Forschungsbedarf gibt es auch im Wasserstoffbereich, er soll hauptsächlich in Schiffen und Flugzeugen eingesetzt werden.

Kohlendioxid im Boden

Große Hoffnungen setzt die IEA auf die CO2-Abscheidung und -Speicherung. Dank ihr soll für Kohlekraftwerke noch eine Art Galgenfrist gelten. Denn nach dem Plan der Energieagentur könnten Kraftwerke auch 2050 noch Kohle und Gas verbrennen – solange sie das CO2 nicht in die Atmosphäre entweichen lassen. Auch die Kohlenstoff-Altlasten vergangener Generationen sollen so aus der Atmosphäre gezogen werden. Umweltschützer und Expertinnen sehen die CO2-Speicherung allerdings kritisch: Kosten und Risiken seien nicht abzuschätzen, die Methode stecke noch in den Kinderschuhen, und ein Spekulieren auf Durchbruch sei vor allem ein Freibrief für fossile Kraftwerke. Elon Musk hat kürzlich 100 Millionen US-Dollar für die besten Ideen zur CO2-Speicherung ausgelobt, um die Technologie zu fördern.

Deutlich mehr müsste für die IEA-Vorschläge in die Hand genommen werden: Rund fünf Billionen Dollar jährlich sollten demnach 2030 in Energie investiert werden – mehr als das Doppelte von heute. (Philip Pramer, Fabian Sommavilla, 24.6.2021)