Erklärt ausgerechnet den "Hass" auf Lyrik zur poetischen Produktivkraft: Ben Lerner, ein in tausend Zungen sprechender Wortvirtuose aus Kansas.

Foto: Ariana Mangual/Suhrkamp

Am Schluss seines ersten Gedichtbands, der verblüffenden "Lichtenbergfiguren" (2004), hüllt US-Autor Ben Lerner die Welt in ein gleißendes Gewand. Das letzte von 52 Sonetten besteht nur noch aus Schnee. Wie ein arktischer Seehundjäger nimmt Lerner Proben unterschiedlicher Schneearten und stopft sie in seinen Sonett-Sack: "Genoschnee", "Phänoschnee", eifersüchtigen Schnee, solchen, der skandalös nachdunkelt.

Mit herkömmlichen Sonetten teilen die aus dem Computer Lerners gerade einmal die Zahl 14. So viele Verse muss ein regelkonformes Sonett aufweisen. Doch Lerner zielt bewusst daneben: Er verzichtet getrost auf Endreime. Er befreit das Metrum von der Gleichmäßigkeit des Klapperns. Nachzulesen sind diese Gedicht-Gedichte in dem zweisprachigen Lyrikwälzer "No Art". Er enthält die drei Gedichtsammlungen Ben Lerners, die physikalisch anmutende Titel tragen wie "Scherwinkel" (2006) oder "Mittlerer freier Weg" (2010): Letzterer meint die Strecke Wegs, die ein subatomares Teilchen zurücklegen muss, ehe es mit seinesgleichen kollidiert.

Lerner-Gedichte weisen eine geradezu unverschämte "Body-Positivity" auf. Dafür packt ihr Schöpfer in jede Zeile mindestens eine Sensation, ein Kryptozitat "zu viel" hinein. In einem Essay erklärte er ausgerechnet "Hass" auf die Betulichkeit von Dichtung zur Voraussetzung seines Tuns: Das Warten auf das endlich gelungene Gedicht bildet die Grundlage, um in der Zwischenzeit andere, noch waghalsigere Gedichte schreiben zu können.

Platzhalter ihrer selbst

Jeder Lerner-Text fungiert als Platzhalter seiner selbst. Lerner-Texte nehmen sich selbst auf den Arm, erklären sich für sich selbst unzuständig. Man meint als Leser, den ständig wechselnden Sensationen einer poetischen Verkaufsausstellung beizuwohnen.

"Was, wenn nicht das Abgeleitete, wird uns wärmen?", fragt uns der Autor aus Tokepa in Kansas zum Auftakt eines seiner Vierzehnzeiler: "Das Brustbein? Zwei Avantgarden, die sich ein Bad teilen?" Das lyrische Ich räumt bereitwillig Mitschuld ein: "Ich bereue, / den Kubismus begründet zu haben".

Von Ben Lerner (42) liegen bereits drei Romane vor, die unter anderem davon handeln, wie es sich anfühlt, Gedichte zu schreiben. Dieser mit Abstrakta wie geladene "Poeta doctus", den auch der deutsche Geschichtenerfinder Alexander Kluge in sein Herz geschlossen hat, tritt jedes Mal aufs Neue die Flucht nach vorne an. Lichtenbergfiguren, nach Georg Christoph Lichtenberg benannt, bezeichnen die farnförmigen Muster, die nach der Entladung von Spannungsenergie entstehen, etwa auf der Haut von Blitzschlagopfern.

Lerner organisiert Sensationen: Hierin gleicht er einem Vorfahren wie Gottfried Benn. Oder eben: "Die Aufhebung der Perspektive ist eine Neuerung in Sachen Perspektive." Ein Autor wie Lerner erfindet nicht, er bildet Bewegungsgesetze ab. Manches Mal hetzen einander die Begriffe wie Cartoon-Figuren: Tom und Jerry besuchen gemeinsam ein Hegel-Seminar. Einige Sätze gleichen Verkaufsgenies, die sich auf einem Markt für Schreihälse behaupten müssen. Bei anderer Gelegenheit kommt Lerner vom Hölzchen aufs Stöckchen: "Ich bereue die Zeilen, die ich nach Augenmaß brach, / und die Zeilen, die ich nach Atemmaß brach." Atempause, dann die Conclusio. "Das Haar um die Vulva? Proust in Übersetzung? Der 11. September?"

Denken in Sprüngen

Ein Denken in Sprüngen: Vom Ursprung der Welt aus führt die Reise nach Combray, von dort weiter zu den Twin Towers. Lerner lehrt heute an der City University von New York. In seinen späteren Gedichtsammlungen gedenkt er nicht nur verblasster B-Filmhelden wie Ronald Reagan. Dieser lyrische Bewegungsmelder zergliedert und isoliert Sätze und Partikel – und schließt sie zu immer "offener" werdenden Gebilden zusammen. Man bekommt das Wortmaterial zu 9/11 um die Ohren geschlagen. Man wird in Diskursbäder getaucht. Das US-amerikanische Narrativ zerfällt, geht auf in einem Meer von Bedeutungen.

Steffen Popp, dem hauptsächlichen Übersetzer dieser vor Unrast vibrierenden Gedichte, ist gar nicht genug zu danken (Kollegin Monika Rinck ging ihm beim Teilband "Mittlerer freier Weg" zur Hand). Mit äußerst klarem Blick für zerfasernde Strukturen zieht er das sinn- dem formgemäßen Übersetzen vor. Das kann auf Kosten des Klangs gehen. Ein Satz wie "Skew lines and slickensides in an era of polarized lights" strotzt vor lauter An- und Gleichklängen. "Windschiefe Geraden und Harnische in einer Zeit polarisierten Lichts"? Nimmt sich dagegen wie der Inhalt eines Formularzettels aus. (Ronald Pohl, 15.6.2021)