Soziologe Sighard Neckel schreibt in seinem Gastkommentar über die Reaktion des Bürgertums auf die staatliche Maßnahmen gegen die Pandemie.

Als vor kurzem fünfzig bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler gegen die Corona-Politik der deutschen Bundesregierung mit satirisch verunglückten Videos zu Felde zogen, rieb sich manch Beobachter ungläubig die Augen. In einem Aufnahmestudio arrangiert, in dem die Beigaben des gehobenen Wohnens ausgestellt waren, saß die Fernsehprominenz auf Designersofas von Ligne Roset, um über die bedrängende Lage zu klagen, in die sie durch die Corona-Maßnahmen der "erhabenen Regierung" (Ulrich Tukur) verbracht worden seien. Den Bürgern würden die Grundrechte genommen, die Medien schwiegen dazu, überall herrsche staatlich verordnete Angstmacherei.

Plötzlich auch Alltag: Polizisten kontrollierten auch schon in der Prater Hauptallee die Einhaltung der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie.
Foto: Corn

Was man hier vor dem Hintergrund geweißter Ziegelsteinwände und weiträumiger offener Küchen zu sehen bekam, atmete den Geist einer Aufsässigkeit, für die das bürgerliche Milieu nicht eben berühmt ist. Bisher galt das Bürgertum als überaus ordnungsbewusst. Und auch prominente Schauspielerinnen undSchauspieler machten nur selten gegen eine Regierung mit Vorwürfen Front, die von der "Panikstimmung" bis zum "Polizeistaat" zahlreiche Schlüsselworte esoterischer Querdenker und rechtsgerichteter Corona-Leugner enthielten.

Mit dem Bürgertum verbinden wir für gewöhnlich, dass es leistungsbewusst und staatstragend ist. Sein Leistungsbewusstsein lässt es auf die Politik nicht selten mit einer gewissen Überheblichkeit blicken. Schwerfällig sei der Staat, unfähig seine Politiker, das meiste könne die Wirtschaft viel besser – lasst doch mal die Fachleute ran! Aus dieser Sicht stellte sich die Corona-Politik als ein einziges Staatsversagen dar.

Bürgerliches Hochgefühl

Und tatsächlich gab es bei der Beschaffung von Schutzmasken, beim Fehlschlag der Corona-App, beim zu geringen Einkauf von Impfstoffen, dem unbeholfenen Finden einer "Teststrategie" und dem Hin und Her von Lockdown und Lockerung so viele Pleiten und Pannen, dass sich das bürgerliche Hochgefühl nur bestätigt sah. Corona-Kabinett und Impfgipfel wurden zu Inbegriffen politischen Unvermögens. Dass andererseits beispielsweise die Privatisierung von Krankenhäusern die Intensivstationen recht schnell an ihre Kapazitätsgrenzen brachte, wird dabei gerne vergessen. Und auch die komplette Vernachlässigung des Infektionsschutzes in vielen Unternehmen war kein Ruhmesblatt der bisherigen Corona-Geschichte.

Zudem sind die bürgerliche Mittelklasse und erst recht die richtig Wohlhabenden vergleichsweise unbeschadet durch die Corona-Krise gekommen. Wer sich einer gut bezahlten Stellung erfreut, Vermögen hat, Haus, Garten und Homeoffice sein eigen nennt, konnte von einer Lebensführung profitieren, die ihm das "social distancing" bereits vor Covid-19 erheblich erleichtert hat.

Währenddessen wütete der pandemische Alltagsstress in kleinen Familienwohnungen, wurden Beschäftigte der "kritischen Infrastruktur" Tag für Tag dem Virus ausgesetzt, verloren zahlreiche Einzelhändler und Selbstständige ihre wirtschaftliche Existenz. Nicht wenige von ihnen trugen in den schier endlosen Monaten der Pandemie einen inneren Groll mit sich herum, einen mühsam zurückgehaltenen Unwillen über die vielen Kehrtwendungen der Corona-Politik und deren ungerechte Auswirkungen.

Aufschlussreich ist, dass man solche Gefühle nicht allein in den Bevölkerungsgruppen beobachten kann, die aufgrund ihrer Soziallage am stärksten unter der Pandemie leiden. Die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihren Videos sprachen nicht nur für Filmschaffende – überall in bürgerlichen Kreisen ist ein Groll auf den Staat gewachsen, der einem jetzt andauernd Vorschriften macht. Im bürgerlichen Milieu ist man das nicht gewohnt. Regierungspolitik erfuhr man meist zum eigenen Vorteil, und ansonsten wollte man in seinem Privatleben in Ruhe gelassen werden.

Gegen Einmischung

Entsprechend geht es dem Bürgertum auf den Wecker, dass der Staat sich jetzt überall einmischt. In Kreisen von Rechtsanwälten, Ärzten, Steuerberatern, Universitätsprofessoren und Unternehmern wird das sehr offen kommuniziert. Staatstragend zu sein, heißt doch wohl nicht, ein "Maskenknappe" zu werden und sich ewig vorschreiben zu lassen, wen man zu sich nach Hause einladen darf!

In anderen Milieus hingegen gehörte die Einmischung des Staates schon immer zur Lebensrealität. Der Fallmanager beim Jobcenter kennt die Lebensumstände seiner Klienten nicht weniger genau als das Sozialamt oder die Jugendhilfe. Der Staat erwartet eine gewisse Folgebereitschaft, gerät man in seine Abhängigkeit. Staatlichen Anordnungen wird auch in Wien am Gürtel mehr Nachdruck verliehen als in Döbling.

Jetzt grollt das Bürgertum, weil es sich in Corona-Zeiten genauso behandelt sieht wie die Sozialschichten unten. Von offener Wut hält es lediglich ab, dass man nicht ganz die Contenance verlieren möchte. Im eigenen Milieuzusammenhang überlässt man es prominenten Schauspielerinnen und Schauspielern, den Affekten freien Lauf zu lassen – eine Art berufliche Arbeitsteilung.

Die Corona-Pandemie wird nicht die letzte Krise in diesem Jahrzehnt sein, die tiefe Einschnitte in das gewohnte Leben zur Folge hat. Weitere Pandemien sind nicht auszuschließen, der Klimawandel fordert seinen Tribut. Abermals muss der Staat die Gesellschaft vor extremen Notlagen schützen. Worauf wird der Groll des Bürgertums dann ausgerichtet sein? (Sighard Neckel, 15.6.2021)