Einwanderungswellen wie zuletzt in der spanischen Exklave Ceuta gibt es immer wieder. Laut einer Studie wird die Migration aus Afrika nach Europa in der kommenden Dekade stark zunehmen – auch mit positiven Auswirkungen für das alternde Europa.

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Europa altert, Afrika ist jung. So ungefähr lautet die einfachste Erklärung für die zunehmende Migration aus Afrika gen Norden. Ohne Migration würde die Erwerbsbevölkerung in Europa schrumpfen. Aber die "demografische Komplementarität" – so heißt das Phänomen, wenn eine Region einen Überschuss an Jungen und einen andere einen Überschuss an älteren Personen hat – ist längst nicht der einzige Grund, weshalb Migration aus Afrika in den kommenden zehn Jahren in Europa eine immer größerer Rolle spielen wird.

Michael Landesmann, Isilda Mara und Richard Grieveson vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) haben in einer Studie untersucht, wie sich die Migration nach Europa in den 2020er-Jahren entwickeln wird. Die Experten erwarten, dass Ende der Dekade mehr als 25 Millionen Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten in Europa – inklusive Großbritannien, Schweiz, Island und Norwegen – leben werden. Das wäre ein Zuwachs um rund 3,4 Millionen. Dahinter stecken viele Gründe.

  • Einkommen Wenn Menschen in anderen Ländern ihr Glück suchen, liegt das oft daran, dass dort ein höheres Einkommen winkt. Allerdings prognostizieren die wiiw-Experten, dass die Migration aus Afrika zunehmen wird, wenn die Einkommen in den Herkunftsländern steigen. Auf den ersten Blick scheint das paradox, weil höhere Einkommen ein Bleiben attraktiver machen sollten. Allerdings sind die Menschen in vielen afrikanischen Ländern so arm, dass sie es sich nicht leisten können, auszuwandern. Migration scheitert am Finanziellen. Mit steigenden Einkommen in besonders armen Herkunftsländern dürfte deshalb die Migration zunächst zunehmen.

  • Netzwerke Nicht nur finanzielle Anreize spielen bei Migrationsentscheidungen eine Rolle. Auch Netzwerke sind starke Pull-Faktoren. Wenn in einer Region viele Menschen aus einem Herkunftsland leben, kommt es verstärkt zu Nachwanderungsbewegungen. "Anfänglich ist das gut für die Integration", erklärt Studienautor Landesmann. "Die Einwanderer migrieren in Netzwerke, wo ihnen mit Sprachschwierigkeiten oder Behördengängen geholfen wird. Sie finden schneller einen Job, weil sie auf das Wissen der früheren Kohorten zugreifen können." Mittelfristig sei wichtig, dass sich diese Netzwerke wieder auflösen, ansonsten drohen Gruppen unter sich zu bleiben und Parallelgesellschaften zu bilden. In Österreich sind die Netzwerkverbindungen mit Afrika vergleichsweise klein. Aber Netzwerke entstehen und wachsen. Landesmann würde es nicht wundern, wenn der Anteil der Migration aus Afrika auch in Österreich wächst.

  • Klima und Konflikte Mit ein Treiber für die wachsende Migration aus Afrika ist der Klimawandel. Die Studienautoren berücksichtigten in ihrer Prognose Faktoren wie steigende Temperaturen, Schwund von Ackerland und die Trinkwasserversorgung. Auch politische Konflikte sind typische Push-Faktoren, sie treiben Menschen in die Migration. Je größer die politischen oder umweltbezogenen Risiken, desto stärker wird die Migrationsbewegung aus Afrika, rechnen die wiiw-Ökonomen vor. Der EU empfehlen sie, im Krisenfall genügend Mittel bereitzustellen, um vor Ort zu helfen.

  • Demografie Europa altert und braucht Arbeitskräfte. Während in Europa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lange Zeit Migration aus dem Osten dominierte, sind die Bevölkerungen dieser Herkunftsländer inzwischen ähnlich gealtert. Zwar geht auch in Afrika die Zahl der Kinder pro Haushalt merkbar zurück, verglichen mit Europa gibt es aber einen Überschuss an jungen Menschen. Auch deshalb werden in der kommenden Dekade viele Afrikaner nach Europa migrieren. "Wenn Migranten auf der Suche nach Arbeit ins Land kommen, nutzen sie die Sozialsysteme unterdurchschnittlich", erklärt Landesmann, "sie sind oft Nettozahler." Das ändert sich jedoch bei Nachwanderungen wie etwa Familienzusammenführungen.

  • Einwanderungspolitik Wird legale Migration erschwert, nimmt die illegale Migration zu. Das ist auch aus ökonomischer Sicht nicht wünschenswert, weil aus vielen Regionen tendenziell besser ausgebildete Menschen abwandern. Kommen sie illegal nach Europa, haben sie kaum Zugang zum Arbeitsmarkt. Damit wird es für Migranten noch schwieriger einen Beruf zu finden, der zu ihrer Qualifikation passt. Man müsse legale Migrationsschienen ausbauen und etwa die Anerkennung von Qualifikationen aus Herkunftsländern verbessern, fordern die Studienautoren. Tendenziell würden sich nämlich besser ausgebildete Schichten aus den Herkunftsländern auf den Weg machen. Ein Nebeneffekt von Einwanderung: Sie stärkt die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Herkunftsländern und Zielländern, wie Landesmann erklärt. Der Handel nimmt tendenziell zu, die Direktinvestitionen auch. Rücksendungen sind für arme Länder relevant und sorgen dort für Kaufkraft. (Aloysius Widmann, 15.6.2021)