In Berlin nahm Glacier Kwong vergangene Woche an einer Demonstration für Hongkong teil.

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Die 24-jährige Glacier Kwong gehört zu jener Generation von jungen Hongkonger, die sich schon ihr halbes Leben gegen den Einfluss Pekings in der chinesischen Sonderverwaltungszone stemmen. Seitdem die chinesische Regierung das neue Sicherheitsgesetz im vergangenen Juli erlassen hat, sind viele ihrer Freunde in Haft. Kwong begann schon vor der großen Protestwelle in Deutschland zu studieren, kehrte aber immer wieder nach Hongkong zurück. Mit dem STANDARD sprach sie in einem Café über ihr Dilemma: im Exil bleiben oder zurück – und damit ins Gefängnis – gehen?

STANDARD: Sie haben in Hongkong oft demonstriert. Wie ist es, die Proteste nun aus der Ferne zu beobachten?

Kwong: Sehr bestürzend. Ich erkenne die Leute auf den Videos, meine Freunde werden verhaftet. Da ist sehr viel Hilflosigkeit. Und man ist sich nicht sicher, wie man am besten jenen helfen kann, die noch in Hongkong sind. Und denen, die schon verhaftet sind. Man fühlt sich sehr schuldig – dass man frei ist und einfach Kaffee trinken kann, während sie nicht das Privileg haben.

STANDARD: Ein Video, das Sie 2014 während den Regenschirm-Protesten gefilmt haben, ging viral. Wie kam es dazu?

Kwong: Damals sind wir gerade vor Tränengas weggelaufen. Ein Kollege hat mich gefragt: "Kannst du ein Video auf Englisch machen, so wie das ukrainische Mädchen (am Maidan 2014, Anmerkung)?" Ich habe geschwitzt, hatte ein Handtuch um meinen Hals. Der Kollege hat das Video dann geschnitten, und wenige Tage später haben es viele Menschen geteilt. Da habe ich erst gedacht: Mist, bringe ich mich gerade in Probleme?

STANDARD: Sie waren auch gerade in Hongkong, als das Sicherheitsgesetz im Juli 2020 kam. Was war Ihre Reaktion?

Kwong: Das Erste, was ich gedacht habe, war: Ich werde sehr bald eine Kriminelle sein. Meine Kollegen haben begonnen, darüber Wetten abzuschließen, wer als Erster verhaftet wird. Wir fanden das lustig! Bei einem Abendessen hat mich ein Kollege im Scherz gefragt: "Bist du bereit für zehn Jahre?" Ich habe erwidert: "Du kriegst selbst 20." Ich mache keine Witze, das waren unsere normalen Konversationen. Es wurde leider zur Realität.

STANDARD: Wie viele von denen, die damals gescherzt haben, wurden verhaftet oder sind im Exil?

Kwong: Alle.

STANDARD: Wie geht es Ihren inhaftierten Freunden?

Kwong: Sie sind seit über 90 Tagen in Gewahrsam, teils ohne Verurteilung. Es ist schwierig, mit ihnen zu kommunizieren. Wir können schreiben, die Briefe werden aber überprüft. Ich schreibe also über sehr triviale Dinge, darüber, was ich esse oder über das Wetter. Es geht ihnen okay, sie sind aber müde und erschüttert. Doch sie sind immer noch entschlossen. Sie werden sich gegenüber Peking nicht beugen.

STANDARD: Auch Joshua Wong sitzt seit Monaten in Haft. Vor zwei Jahren sind Sie mit ihm durch Deutschland gereist. Wie lange kennen Sie einander schon?

Kwong: Seitdem wir etwa 15 sind. Damals haben wir uns gehasst, weil wir sehr unterschiedliche politische Ansichten hatten. Ich fand, er war zu mild, und er dachte, ich war zu radikal. Aber nach 2018 haben wir erkannt, dass es keinen Unterschied macht, wie mild oder radikal du bist: Das System wird so oder so hart gegen uns durchgreifen.

STANDARD: Was wollen Sie für Hongkong?

Kwong: Was Hongkonger wollen, ist für die internationale Gemeinschaft nicht wirklich akzeptabel, zum Beispiel die Unabhängigkeit. Der Konsens ist, dass wir 1997 an China zurückgegeben wurden. Daher spreche ich selten über meine persönlichen Ansichten. Meine Rolle als Aktivistin ist es, Bewusstsein für Hongkong zu schaffen mit dem Ziel, härtere Aktionen gegen China zu fördern.

STANDARD: Aktivisten in Hongkong wird vorgeworfen, dass sie vom Ausland finanziert werden. Ist das so?

Kwong: Ich wünschte! Ich wünschte, wir würden von der CIA finanziert! Bei der letzten Kampagne, bei der ich mitgemacht habe, kam das meiste Geld von öffentlichen Spenden. Leute wie Nathan Law zum Beispiel sind sehr berühmt – natürlich werden sie von Leuten unterstützt.

STANDARD: Wäre das Sicherheitsgesetz vermeidbar gewesen?

Kwong: Nein. Hongkonger sind für ihre Gelassenheit bekannt, wenn es um die Meinungsäußerung geht. Schon 2003, als nichts passiert ist, wollte Peking ein ähnliches Gesetz einführen. Egal wie gefügig wir sind, sie werden trotzdem hart durchgreifen.

STANDARD: Eigentlich sollte "Ein Land, zwei System" bis 2047 gelten. Warum will Peking Hongkong so rasch ins eigene System eingliedern?

Kwong: Für Peking geht es immer darum, die Legitimität der Herrschaft zu stabilisieren. Hongkongs halbdemokratisches System bedroht diese Stabilität. Sie können nicht die geringste Chance des Mitspracherechts oder der Kritik an der Regierung tolerieren. Auf der anderen Seite ist Hongkong als Zugangspunkt für China sehr wichtig. Für China ist Hongkong eine Gans, die goldene Eier legt. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass sich diese Gans lösen könnte, kann das China nicht tolerieren.

STANDARD: Aber ist die Gefahr, dass sich Hongkong löst, realistisch?

Kwong: In den Augen Pekings bedeutet "sich lösen" nicht unbedingt, dass wir unabhängig werden. Peking kann nicht zu hundert Prozent kontrollieren, was in Hongkong passiert. Welches Gesetz eingeführt wird und welches nicht zum Beispiel, wirkt sich direkt auf die Interessen des Pro-Peking-Lagers aus. Mit "sich lösen" meine ich daher "außer Kontrolle geraten". Sie sind wie die verrückte Freundin oder der verrückte Freund, die immer hundertprozentig wissen müssen, wo der Partner ist.

STANDARD: Können Sie zurück nach Hongkong?

Kwong: Wenn ich ins Gefängnis will, ja. Ich denke viel darüber nach, bin mir aber nicht sicher, ob es nützlich ist. Vielleicht wird eine Zeit kommen, in der ich denke, dass es mehr Sinn macht, ins Gefängnis zu gehen. Wenn die Rückkehr sinnvolle Veränderung ermöglicht, geht vielleicht eine Gruppe von uns zurück. (Anna Sawerthal, 15.6.2021)