Der türkische Staatschef zeigt sich willig, in die Mitte des westlichen Bündnisses zurückzukehren. Allerdings braucht es dafür konkrete Zugeständnisse.

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Istanbul – Der Montag war für den türkischen Staatschef Tayyip Erdoğan ein Tag der Entscheidung. Anlässlich des Nato-Gipfels in Brüssel, dem einzigen Format, dem die Türkei im Verbund der wichtigsten westlichen Staaten angehört, absolvierte Erdoğan einen diplomatischen Marathon mit dem Höhepunkt am Schluss, seinem ersten Treffen mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Joe Biden.

Eine knappe Stunde saßen die beiden Staatschefs sich gegenüber, nach Angaben des US-Präsidenten war es "ein sehr gutes Gespräch". Seit Jahren ist das Verhältnis zwischen den USA und der Türkei auf einem Tiefpunkt. In Ankara vermutet man, dass die USA den Putschversuch gegen Erdoğan im Sommer 2016 mindestens indirekt unterstützt haben, in Washington beobachtet man misstrauisch die zeitweilig immer engere Zusammenarbeit der Türkei mit Russland.

Annäherung an Russland

Der Dreh-und Angelpunkt für Biden ist deshalb das Verhältnis der Türkei zu Russland. Biden will, bevor er sich am Mittwoch mit dem russischen Präsidenten Putin trifft, sicher sein, dass Erdogan sein Land noch innerhalb der Nato angesiedelt sieht und nicht irgendwo zwischen Russland und den USA.

In den letzten Jahren hatte sich Erdoğan, vor allem in der Frage der Einflussgebiete in Syrien, weit auf Putin eingelassen. Symbolischer Ausdruck dieser Politik war der Kauf des modernen russischen Raketenabwehrsystems S-400, dass mit den Nato-Systemen nicht kompatibel ist und in Washington die Befürchtung nährte, Erdoğan könnte mehr und mehr in die Abhängigkeit Russlands geraten und durch die S-400 auch geheime Fähigkeiten amerikanischer Waffensysteme ausspähen.

Dabei geht es vor allem um das modernste Kampfflugzeug F-35, das eigentlich auch an die Türkei geliefert werden sollte aber solange nicht ausgeliefert werden wird, wie die S-400 Systeme noch auf türkischem Boden sind. Die Amerikaner bestehen vor allen anderen Fragen darauf, dass Erdoğan die S-400 Raketenabwehr einpackt und außer Landes bringt.

Nötige Zugeständnisse

Über diese Frage soll nun weiter gesprochen werden. Biden hatte im Vorfeld aber auch klargemacht, dass es neben den militärischen Fragen für ihn auch ein Selbstverständnis im Bündnis ist, dass Menschenrechte respektiert und die Opposition nicht gewaltsam nieder gemacht wird. Auch wenn Biden seinen Vorwurf Erdoğan sei "ein Autokrat" nicht erneuern wird, er und vor allem seine Partei fordern doch deutlich, dass sich auch innenpolitisch in der Türkei etwas ändern muss.

Der türkische Präsident wird Zugeständnisse machen müssen, wenn er im westlichen Bündnis wieder respektiert werden will. Das ist gleichzeitig die Voraussetzung, dass die türkische Wirtschaft wieder eine Chance bekommt. Bereits die Ankündigung des Treffens mit Biden reichte aus, damit die türkische Währung nachwochenlanger dramatischer Talfahrt ihren Absturz bremsen konnte. Dazu gehört aber auch eine Wiederannäherung an die EU. Noch vor Beginn des offiziellen Nato-Gipfels hatte Erdoğan deshalb sowohl ein Treffen mit dem französischen Präsidenten Emanuel Macron wie mit der scheidenden deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Krise im Ostmittelmeer

Vor allem Macron hatte sich im Konflikt um die Ausbeutung von Öl-und Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer demonstrativ an die Seite Griechenlands gestellt und sogar einen Flugzeugträger in die Konfliktregion entsandt. Jetzt soll wieder rational geredet werden, Erdoğan will unbedingt vermeiden, dass die EU bei ihrem kommenden Gipfel am 24. und 25. Juni neue Sanktionen gegen die Türkei verhängt, was die türkische Wirtschaft endgültig zum Einsturz bringen würde.

Deshalb haben schon vor Wochen bilaterale Gespräche zwischen der Türkei und Griechenland begonnen, und als vorläufiger Höhepunkt dieses diplomatischen Drahtseilaktes traf sich am Montag auch noch der griechische Ministerpräsident Kyrios Mitsotakis mit Erdoğan. Die nächsten Wochen werden zeigen, wie weit die Gespräche am Montag geführt haben. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 14.6.2021)