Das Wort toxisch wird aktuell vielerorts geradezu inflationär für Menschen beziehungsweise Beziehungen verwendet. Toxisch heißt giftig, doch was bedeutet das in dem Zusammenhang? Müssen wir immer gut drauf sein und alles "richtig" machen? Nein. Ich bin mal so frei und dehne diese Auseinandersetzung hier auch auf die Sexualität aus.

Ja, so gut wie jede/r wünscht sich eine lebendige Beziehung: eine mit Interesse aneinander, einem wohlwollenden Miteinander, mehr Freude als Frust, dem Wunsch, es sich gemeinsam – auch beim Sex – schön zu machen, so etwas wie Verbündete zu sein. Das heißt, dass alle mitspielenden Personen gleichwertig ihre Bedürfnisse ausdrücken und ins Lebens- beziehungsweise Liebesspiel integrieren können und dürfen und natürlich auf überwiegend wertschätzende Resonanz stoßen, es also ein ehrliches, echtes, überwiegend positives Miteinander gibt.

Was das Frühstückssemmerl damit zu tun hat

Oftmals sind wir da ganz weit weg. Um auch hier die verbreitete Metapher mit dem "Frühstückssemmerl" zu bemühen – einfach, weil sie viele Beziehungen so wunderbar auf den Punkt bringt:

Ein Paar teilt seit langem eine Semmel zum Frühstück – immer gibt er/sie die obere Hälfte ihm/ihr, im festen Glauben, das ist die vom geliebten Menschen bevorzugte Lieblingshälfte. Vielleicht stimmte das auch einmal. Jeden Tag denkt sich der eine, der teilt: Ich hätte ja gerne lieber diese. Und jeden Tag denkt sich der mit der oberen Hälfte: Ich hätte ja lieber die untere. Bis einer der beiden mal tatsächlich den Mund aufmacht und fragt: Können wir mal tauschen, oder ich hätte bitte lieber mal die andere Hälfte. Eigentlich ganz einfach – wenn wir die Worte finden.

So oft findet genau das auch beim Sex statt

Nach oft anfänglicher Leidenschaft können und werden im Alltag Veränderungen in der Sexualität kommen. Jede/r glaubt, interpretiert, "weiß wie der/die andere tickt" und schwups, sind beim Sex der oder die "kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden". Kaum noch Spiel, kaum bewusstes Entdecken, kein darüber reden, keine Verführung. Wir wissen doch, was der/die andere braucht, haben "einsortiert". Und genau das tun wir dann auch, immer und immer wieder. Wo bleiben aufregende Spannung, Überraschungen, die Freude? Der oft fälschliche Rückschluss beider: der/die andere ist langweilig, hat keine Ahnung, macht immer dasselbe.

Wege zu- und miteinander gehen könnte hilfreich sein. Solange eine gute Gesprächsbasis und Interesse da sind, sowie die Gewissheit, dass es abseits von Familien- oder Alltagstrubel bewusste Paarzeit gibt, ist oft schon der halbe Weg zu einem miteinander zurückgelegt. Natürlich nur, wenn beide das auch wollen, also emotional noch in der Beziehung sind.

Jede Beziehung hat auch belastende oder "toxische" Elemente

Klar, nicht immer sind wir gut drauf, nett zueinander, in allen Punkten ganz ehrlich, oft ist der Kopf mit eigenen Themen so voll – und dann will auch noch der andere etwas. Ungeduld oder Ablehnung liegen nahe. Das alles ist noch lange nicht toxisch, sondern normal. Außerdem – wir spiegeln einander die "blinden Flecken" oder "wunden Punkte", die wir selbst so gerne ausblenden. Manche wachsen miteinander, reifen an Herausforderungen. Andere empfinden diese Schwierigkeiten als übermächtig, hegen und pflegen das Unverständnis, die trennenden Elemente – ab jetzt kann es unter Umständen toxisch werden.

In einer lebendigen Beziehung zu sein heißt, dass zwei sich immer wieder gerne aufeinander zu bewegen wollen, neugierig aufeinander in allen möglichen Facetten sind, wach für einander bleiben und wohlwollend für sich und den/die andere sind.

Wenn nicht nur kurz-, sondern auch mittel- oder langfristig beide Teile aufblühen und sich entwickeln können, so wie es zur Persönlichkeit passt, gespiegelt und feingeschliffen durch die liebevolle Partnerschaft – wenn es also ein überwiegend freudiges Miteinander und "einander sein lassen können" gibt.

Sich aufeinander einlassen, Wünsche ansprechen und teilen – das Sexleben muss nicht einschlafen und fad werden.
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Zur gesunden Beziehung gehört dann auch ein stabiles Commitment, das für ihre Intimität passt – auf allen gewünschten Ebenen. Denn diese "Sicherheit" beziehungsweise dieses "aufeinander verlassen können" lässt beiden auch schlussendlich die Freiheit sich zu entfalten. Miteinander frei sein, sozusagen. So bleibt auch die Sexualität selbstverständlicher spannend, es sind doch zwei wache, eigenständige Menschen in der Beziehung. Belastende Phasen vergehen.

Bewusst aufeinander einlassen

Wenn die Basis löchrig, instabil oder unsicher ist, wird sich kaum jemand frei fühlen können, auch nicht beim Sex – außer es sind wenig bis keine echten Emotionen im Spiel. Selbst wenn beide miteinander eine echte Beziehung wollen, jedoch ganz unterschiedliche, womöglich verletzende Werte leben, kann es zu einer toxischen Dynamik kommen. Auch, wenn es weder gemeinsame Ziele noch Träume gibt, zu oft Unklarheiten, Unehrlichkeiten oder andere grundlegende Irritationen ständig die Basis erschüttern und an ihr rütteln. Belastende Phasen sind Dauergast.

Dabei könnte es ganz einfach sein, wenn sich beide Partner wirklich aufeinander einlassen und den Mut haben, sich in ihrem gesamtem, nicht nur strahlendem, lustigem, begehrenswertem Wesen zeigen. Auch beim Sex. Warum nicht immer wieder bewusst versuchen aufeinander einzugehen, auch sexuell miteinander forschen, probieren, genießen? Das tut unendlich gut. Und zuhören, nachfragen, echtes Interesse haben, ebenfalls.

Anregung: Wer bewusst den Partner mal fragt, woran der andere es bemerken würde, geliebt zu sein, fühlen sich beide gesehen. Freudiges, prickelndes Gelingen kann so einfach sein.

"Wer will, findet lustvolle und freudige Wege, wer nicht will, sucht Gründe"

Für die Sexualität heißt das, dass beide gestalten, anstatt nur mitzumachen. Sex kann so viel lustvoller, intensiver, erhebender und erregender sein, wenn er immer wieder die aktuellen Bedürfnisse wach und freudig erforscht. Unsere Körper, unser Sex verändern sich ja ein ganzes Leben lang – und nein, es muss echt nicht irgendwann wirklich aufhören, es wird aber relativ wahrscheinlich anders werden mit der Zeit.

Die sinnvolle Frage könnte lauten: habe ich mich wirklich eingebracht, so ganz ehrlich mit meinen Bedürfnissen gezeigt, oder den/die andere eingeladen, diese wieder mit mir zu erforschen? Klingt anstrengend? Machen wir das im Job oder sogar mit guten Freunden nicht auch laufend? Eben. Warum also nicht erst recht dort, wo wir wohnen, leben, lieben?

Schlussendlich ist es eine Frage der Haltung und weniger des Verhaltens – dann ist es eine Entscheidung und keine Arbeit mehr. "Wer will, findet lustvolle und freudige Wege, wer nicht will, sucht Gründe."

Klar, es kann auch leidenschaftlichen, brennenden Sex geben, obwohl es toxisch ist, weil etwas heimlich, verboten, mit "erregendem" Schmerz oder Machtspielen zu tun haben kann. Wer regelmäßig in solchen Beziehungen landet, dem rate ich herzlich dazu, mit psychologischer Beratung/Psychotherapie diese destruktiven Muster aufzulösen – es tut der Seele nicht gut, wenn die Beziehungsdynamik schmerzhaft ist, oder sogar "toxisch" wird.

Alle möglichen lustvollen Spiele beim Sex können selbstverständlich auch in einer guten Liebesbeziehung miteinander genossen werden, bis hin zum Ausprobieren von sexuellen Spielvarianten, die unseren Werten in der Beziehung oder im Alltag voll widersprechen – Unterwerfung, Erniedrigung zum Beispiel. Immer wieder kann beim Sex gerade das triggern, was wir sonst im realen Leben klar ablehnen.

Entspannt und angezogen

So manche Leidenschaft will entspannt und angezogen in einer Situation besprochen werden, in der es sicher nicht zum Sex kommt, vielleicht bei einem Spaziergang. Wie wäre es, einander immer wieder wach und bewusst zu begegnen, gemeinsame Visionen und Träume zu teilen und sich auch in "alltäglichen" Aufmerksamkeiten Zuneigung zeigen – statt einander zu benutzen, geil zu finden – und sonst nichts? Manche sagen oder schreiben permanent "Ich liebe dich" sind aber weder emotional noch mit der Aufmerksamkeit wirklich beim anderen. Da kann nur jede/r selbst herausfinden, was wirklich guttut.

Wer innerhalb einer Beziehung guten Sex will, dem möchte ich herzlich ermuntern, in die eigene Bedürfniswelt einzuladen, die Chancen stehen gut, dass der andere neugierig mitkommt. Auch mal selbst zu führen, sich verführen zu lassen, zu probieren, zu spielen, gemeinsam mit Freude den lebendigen Sex immer wieder neu zu entdecken.

Auch Umwege können zu einem freudigen Miteinander führen

Wenn ein Teil ständig abblockt, der andere sozusagen immer auf Abstand gehalten wird, sich in seiner Zuneigung zurückgewiesen fühlt, ist es ein Alarmzeichen. Das muss nicht so bleiben, bitte holt euch fundierte und professionelle Hilfe. Es muss niemand in einer Beziehung bleiben, in der die Bedürfnisse beständig und schmerzhaft unterschiedlich bleiben und schlussendlich beide leiden. Manchmal bietet gerade eine liebevolle, sichere Beziehung dem verletzten Unterbewusstsein den Raum, alten Verletzungen "nachspüren" zu können, um sie loslassen zu können. Oft braucht es seine Zeit, aber dann gibt es wieder ein freudiges Miteinander. (Nicole Siller, 18.6.2021)