Ein Jahr bedingte Haft lautet das Urteil für den Wiener Beamten. Es ist nicht rechtskräftig.

Foto: Lukas David Beck

Die auf Video festgehaltene Szene war so eindrücklich, dass sie auch Wochen später noch öffentlich diskutiert wurde: Als Anselm Schindler am Rande einer Straßensitzblockade von Demonstranten bei der Wiener Urania Ende Mai 2019 von Polizisten festgenommen wird, kommt sein Kopf unter einem Polizeibus zu liegen. Dieser fährt an – und erst im letzten Moment reagieren die Beamten und ziehen seinen Kopf weg.

Zwei Jahre und zwei bereits abgeschlossene Verhandlungen am Landesverwaltungsgericht später musste sich der führend an der Festnahme beteiligte Polizist D. am Dienstag vor dem Straflandesgericht verantworten. Die gesamte Amtshandlung wurde vom Verwaltungsgericht bereits als rechtswidrig erkannt. Die Staatsanwaltschaft lastet dem Beamten nun Amtsmissbrauch wegen der laut Anklage zu Unrecht erfolgten Festnahme sowie falsche Beweisaussage an. Letzteres geht auf eine Aussage vor dem Verwaltungsgericht zurück. Die damalige Richterin hat D. angezeigt.

Und in einer Sache sind sich auch alle Beteiligten vor dem Straflandesgericht einig: Optimal ist die Amtshandlung nicht verlaufen. Selbst der betroffene Polizist sagt: "Objektiv habe ich Fehler gemacht. Subjektiv tut es mir leid." Um die Unterscheidung dieser beiden Ebenen wird es dann auch im mehrstündigen Prozess gehen. Weil es von dem Vorfall eine unüblich ausführliche Videodokumentation gibt – mehrere Zeuginnen und Zeugen stellten Videos zur Verfügung –, gibt es über den Hergang des Vorfalls eigentlich nicht mehr allzu viel zu debattieren.

Das Problem für den Angeklagten, der sich als nicht schuldigt bekennt: Die Videos widersprechen seiner Aussage und auch seiner Begründung, weshalb er Schindler festgenommen und angezeigt hat. Laut D. habe sich Schindler nämlich aggressiv verhalten. Auf den Videos wirkt Schindler, anwesend als Beobachter, allerdings weder aufgebracht noch aggressiv. Nach einer Aufforderung beginnt er, sich zu entfernen.

Wahrnehmungsverzerrungen

Kurze Zeit später wird er von D. gepackt, hinter die polizeiliche Sperrkette gezogen und festgenommen. Dann folgt die bekannte Szene unter dem Bus. "Ich kann nur erzählen, wie ich es subjektiv wahrgenommen habe", betont D. mehrmals. Wenn er jetzt die Videos sehe, erkenne er wohl, dass das vorhandene Filmmaterial nicht mit seinen Wahrnehmungen übereinstimme. Aber, so D.: "Wahrnehmungsverzerrungen gibt es." Besonders, so D. sinngemäß, bei so einem herausfordernden Einsatz wie diesem. Dass der Bus, dessen Motor lief, gleich anfahre, habe er nicht wahrgenommen. D. beschreibt die laut ihm stressbehaftete Situation so, dass er einen "Tunnelblick" bekommen habe, er habe mit "Scheuklappen" agiert. Zudem habe sein Vorgesetzter ihm befohlen, den Bereich – den Gehsteig – zu räumen: "Dann kann ich nicht sagen: Nein, ich will nicht."

Und: Es gibt vier Sekunden, die nicht filmisch festgehalten wurden. Es ist die Zeitspanne zwischen Schindlers Abgang und dem Beginn der Festnahme. In dieser Zeit soll sich laut dem Angeklagten einiges zugetragen haben: eine Konversation darüber, dass Schindler aggressives Verhalten unterlassen solle, etwa. Ebenso habe Schindler sich umgedreht und den Polizisten gestoßen. Für Richterin Anna Marchart nicht glaubwürdig: Es sei denkunmöglich, dieses Prozedere in den vier Sekunden unterzubringen.

Verschiedene Erinnerungen

An eine Abmahnung für sein Verhalten könne er sich nicht erinnern, gibt Schindler zu Protokoll. Aber: "Ich kann sagen, dass ich nicht aggressiv war." Gepackt worden sei er, als er sich gerade wegbewegt habe. Schindlers Anwalt Clemens Lahner gesteht D. in seinem Abschlussplädoyer zu, dass "Menschen Dinge unterschiedlich wahrnehmen können. Aber das, was man selbst gemacht hat, kann man ja nicht falsch wahrnehmen".

Dass falsche Entscheidungen getroffen werden, heiße noch nicht automatisch, dass die Voraussetzungen für Amtsmissbrauch vorliegen, bringt D.s Verteidiger Martin Riedl vor; "von subjektiver Tatseite her" sei man von Wissentlichkeit als Voraussetzung für Amtsmissbrauch "weit weg". Zudem habe es ja gar kein Motiv gegeben, dafür aber eine Weisung seitens des Vorgesetzten.

Das überzeugt das Schöffengericht nicht. Polizist D. wird in beiden Punkten schuldig gesprochen und zu zwölf Monaten bedingter Freiheitsstrafe verurteilt. D. habe wissentlich gehandelt, führt Richterin Marchart bei der Urteilsbegründung aus. Tatangemessen seien 15 Monate, drei Monate werden D. aber wegen der langen Verfahrensdauer nachgesehen, sagt Marchart.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die Verteidigung kündigte Rechtsmittel an.

Weitere Ermittlungen

Im Zusammenhang mit dieser Demonstration wird noch gegen sechs Beamte seitens der Staatsanwaltschaft ermittelt. Darunter ist auch ein an Schindlers Festnahme beteiligter Beamter. Gegen den Fahrer des Polizeibusses liegt bereits ein Strafantrag vor. (Vanessa Gaigg, 15.6.2021)